2011 findet die Tour de Suisse zum 75. Mal statt. Aus Anlass des Jubiläums blickt der frühere Sportjournalist Sepp Renggli auf die Landesrundfahrt zurück, die ihn anlässlich der Premiere 1933 schon als Buben begeisterte und von der er später 45 Mal berichtete.
Der Schweizerische Radfahrer-Bund, heute vornehmer Swiss Cycling, feierte 1933 seinen 50. Geburtstag und schenkte sich die Tour de Suisse. Als Premiere-Aushängeschild diente Paul Egli aus Dürnten, der soeben in Paris Strassenweltmeister der Amateure geworden war und auf Geheiss des Verbandes zwecks Propagierung des neuen Rennens Profi werden musste. Die Funktionäre verhätschelten den Publikumsliebling und verabreichten ihm treuherzig so viele Proviantsäcke, dass er manchmal unter ihrer Last fast zusammenbrach. Die erste Etappe führte von Zürich nach Davos, die zweite vom Landwassertal bis Luzern. Das Ziel befand sich ungefähr dort, wo heute das Verkehrshaus steht.
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Diesen für den Drittklässler Seppli historischen Ort durfte ich auf keinen Fall verpassen. Deshalb erfand ich, phantasievoll, wie ich war, den Tod einer Tante, um dem epochalen Ereignis beizuwohnen. Doch die Enttäuschung war enorm. Erstens gewann nicht mein Favorit Egli, sondern irgendein Österreicher namens Bulla oder ähnlich; und zweitens entlarvte Lehrer Kaiser den Schwindel mit der verstorbenen Tante. Er verurteilte mich nach ein paar schmerzhaften Tatzen seines kantigen Lineals zum Hülsenauflesen beim Obligatorisch-Schiessen am nächsten Samstagnachmittag. Herr Kaiser war Oberst, Gemeinderat, Sektionschef und Präsident der Schützengesellschaft Kriens. Niemand widersprach ihm.
Nachdem der Schulschwänzer grösser, älter und schliesslich Sportjournalist geworden war, berichtete er in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts 45 Mal für Radio und Printmedien über die Tour de Suisse und musste nur ein einziges Mal einen weiteren Österreicher Sieg erleiden. Als Trost durfte er dafür mehrmals von Schweizer Velohelden schwärmen, von Koblet und Kübler bis Rominger und Zülle. Cancellara kam später.
Küblers Rennen und Cancellaras Rennen haben allerdings nur den Namen gemeinsam: Tour de Suisse. Szenerie und Rennverlauf haben inzwischen total gewechselt. Auf einigen Passstrassen wirbelten damals Staubwolken meterhoch. Steine malträtierten Rad und Mann. Defekte Fabrikwagen blieben unterwegs stehen. Alleingelassene Fahrer verlangten verzweifelt Hilfe und Ersatzreifen. Mit Kreide beschriftete Schiefertafeln orientierten die Begleiter. Am Ziel drohten keine Dopingkontrollen. Stimulans, Weckamine, Stuka-Tabletten und andere Aufpeitschmittelchen verdrängten ungestraft Hungerast, Hammermann und toten Punkt – jeder war sein eigener Apotheker.
Die Mannschaftstaktik spielte eine untergeordnete Rolle. Kampf Mann gegen Mann, Kübler gegen Koblet, Bartali gegen Coppi, Schmutz gegen Breu. Gody Schmutz versuchte 1981 seinem Teamkollegen Beat Breu coram publico das Goldtrikot zu entreissen, worauf der St. Galler dem Velovolk mitteilte: «De Gottfried isch für mich gschtorbe.» (Totgesagte leben länger. Schmutz lebt meines Wissens noch immer.) Der Arbeitnehmer auf dem Zweirad, nicht der Chef im Auto, entschied, was im Rennen geschah. Die heutige Fernsteuerung via Funk verdrängt leider den individuellen Instinkt.
Im Schatten der Stars blieb stets auch Platz für Schabernack und Eskapaden. Der Engländer Walter Summers hatte in London von den landschaftlichen Schönheiten der Schweiz gehört, rüstete sich 1947 mit einer Kamera aus und fotografierte unsere Berge, ehe er dort jeweils in Schwierigkeiten geriet. Der Spanier Bernardo Ruiz riss 1951 im Berner Jura aus und benützte die Zeitreserve, um Werbebotschaften seines Sponsors in die Zuschauerreihen zu werfen. Der stets fröhliche Tessiner Giovanni Rossi, Hauptberuf Kellner, spurtete gelegentlich aus dem Feld, versteckte sich hinter Gebäuden, schmuggelte sich am Ende der Karawane quasi inkognito wieder ins Rennen und freute sich spitzbübisch, wenn das Peloton mit Rossi auf den vermeintlichen Flüchtling Rossi Jagd machte.
Ähnlich inszenierte sich André Brulé. Einst signalisierte ihm ein Betreuer drei Minuten Vorsprung. Der zuweilen etwas verrückte Franzose glaubte ihm nicht, hielt an, konsultierte seine Uhr und wartete auf die Konkurrenten. «Ich habe gewusst, dass es mehr als drei Minuten sind», tadelte er den Informanten und setzte das Rennen fort. 1949 erreichte Brulé, von Ascona her kommend, das Simplon-Hospiz eine Viertelstunde vor dem bummelnden Feld. Angesichts des prophezeiten Gegenwinds im Rhonetal und der fast endlosen Fahrt bis Genf gönnte sich André auf dem Simplon eine Siesta und soll Ansichtskarten geschrieben haben. «Salutations du Simplon, André.» Er hätte auch signieren können: «Vainqueur André». Denn der Ausgeruhte gewann anschliessend die längste aller bisherigen und wohl auch künftigen Tour-de-Suisse-Etappen, Ascona–Genf, 350 km.
Irgendwann in den fünfziger Jahren stiftete eine Hemdenfabrik den letzten drei jeder Etappe ein Herrenhemd. Weil es im Tagesklassement nur bis zum 30. Platz Preisgeld gab, führte diese kleidsame Prämie zu Zeitlupenszenen vor dem Besenwagen. Einige in der Gesamtwertung hoffnungslos zurückliegende Aussenseiter verbargen sich hinter Heumahden, Scheunen, Felsblöcken oder Hausecken und warteten, bis die anderen Hemdenkandidaten passierten. Obwohl schon Bismarck beteuerte, das Hemd sei ihm näher als der Rock, gehören die Hemden-Schlusslicht-Slow-Motion-Sprints seither ins Tour-de-Suisse-Panoptikum. Für Zeitlupen-Aktionen ist jetzt das Fernsehen zuständig.
Ob die Besitzer dieser Hemden noch leben und selbige noch tragen, konnte mir selbst Google nicht verraten. Dagegen kennt die Suchmaschine zwei Todestage: 16. 6. 48 und 6. 11. 64. 1948 starb der Belgier Richard Depoorter nach Sturz in einem unbeleuchteten Susten-Tunnel. 16 Jahre später endete Hugo Koblets irdisches Dasein an einem Baum in Esslingen. Der Tour-de-France-Sieger 1951 hatte dem Schweizer Veranstalter 1952 als Zugnummer gedient. Auf Befehl des Tour-Chefs musste der Tour-Arzt den in Monthey mit 39 Grad Fieber an einer Nierenbeckenentzündung leidenden Patienten für die Fortsetzung gesundspritzen. Koste es, was es wolle. Es kostete viel. Das Fieber ging, ein Herzfehler kam. Hugo sagte mir später: «Die Spritze von Monthey kostet mich 10 Jahre meines Lebens.» Er untertrieb. Koblet verschied im Alter von 39 Jahren. Nicht 10 Jahre fehlten, 40 Jahre fehlten.