Der BegriffWiderspruch und der damit verwandte BegriffAntagonismus (Neologismus ausaltgriechisch ἀντίantí „gegen“ und ἀγωνισμόςagonismós „Wettstreit“) sindphilosophischeTermini derHegelschen wie auch dermarxistischenDialektik. Im Kontext der Dialektik wird der Begriff allerdings nicht im Sinne desSatzes vom ausgeschlossenen Widerspruch der traditionellen und der formalen Logik verwendet, sondern im Sinne sichpolar gegenüberstehenderGegensätze. Widersprüche können zwischen materiellen und ideellenErscheinungen bestehen, also zwischenBegriffen,Ideen undAussagen, aber auch zwischenhistorischen Kräften, gesellschaftlichen Klassen, Tendenzen und Entwicklungen.
Für Hegel, dessen Widerspruchslehre an die gesamte Philosophiegeschichte anknüpft, ist die geistige, gesellschaftliche und natürliche Welt von einer (der absoluten!) Idee beherrscht, die sich entwickelt und von der menschlichenVernunft erkannt werden kann. In jeder Phase der Entwicklung gibt es zunächst einen Widerspruch, durch den die Bewegung der Sache entsteht und der seine Lösung in einem neuen Zustand der Idee findet. Hegel fasst die Bewegung selbst als den daseienden Widerspruch auf. Er vergleicht ihn in der Vorrede zurPhänomenologie des Geistes metaphorisch mit dem zur Veränderung führenden Moment einer sich entfaltenden Pflanze: „Die Knospe verschwindet mit dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist...“[1] Durch diedialektische Bewegung der Vernunft wird der Widerspruch, beziehungsweise ist er immer schon in demAbsolutenaufgehoben. Hegels spekulativer Ansatz versteht sich als Darstellung der Idee desGeistes, die sich durch die Widersprüche hindurch entwickelt.
Karl Marx und seine Nachfolger übernahmen den Hegelschen Begriff des Widerspruchs und wandten die Dialektik Hegels nach grundsätzlicher Kritik aufmaterialistischer Grundlage als Forschungs- und Darstellungsmethode gesellschaftlicher und insbesonderewirtschaftlicher Prozesse an (vgl.Dialektischer Materialismus undHistorischer Materialismus). Besonders bekannt ist der Widerspruch zwischenArbeit undKapital und der zwischenGebrauchswert und Wert einerWare, der in derWertformanalyse des ökonomischen Hauptwerkes von Marx „Das Kapital“ eine grundlegende Rolle spielt. Marx verwendete den Begriff „Widerspruch“ nicht im Sinne des formal-logischen Satzes vom Widerspruch, sondern im Sinne gegensätzlich gerichteter Kräfte und Tendenzen, die zur Veränderung und Entwicklung eines Systems führen. Dabei wird zwischen antagonistischen (z. B. Arbeit und Kapital) und nicht-antagonistischen Widersprüchen (ein Planet wird von der Sonne angezogen und durch die Zentrifugalkraft von ihr weggetrieben – die Planetenbahn verkörpert die Lösung dieses „Widerspruchs“) unterschieden. Im Rahmen der marxistischen Kritik am Kapitalismus sind vor allem die antagonistischen Widersprüche interessant. Der Begriff „Widerspruch“ wird in diesem Kontext vorrangig im Sinne von „Gegensatz“, aber auch im Sinne vonFeindschaftsozialer Klassen imKlassenkampf und in derRevolution aufgefasst: Der Widerspruch bekommt eine Verlaufsform. Die Lösung antagonistischer Widersprüche besteht im Untergang einer der gegeneinander agierenden Klassen.[2] Dagegen dominieren nicht-antagonistische Widersprüche in der Darstellung von Problemen des real existierenden Sozialismus.[3]
Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 1, Argument-Verlag, Hamburg 1994,ISBN 3-88619-431-0, Sp. 297–309.