Hochfeste undSonntage beginnen liturgisch bereits am Vorabend; die Vesper am Vorabend wird dannerste Vesper genannt, die am Tage selbstzweite Vesper.[4]
Als dasUrchristentum aus derjüdischen Tradition, dreimal am Tag zu beten, die Vorstufe des heutigenStundengebets entwickelte, kam dabei dem Abendgebet wie schon demMaariw der jüdischen Tradition eine wichtige Rolle zu. Auch als sich ab dem 3. Jahrhundert dieEremiten zu (koinobitischen) Gemeinschaften zusammenschlossen, war eine der beiden gemeinschaftlichen liturgischen Versammlungen am Abend, die andere am frühen Morgen. Den jüdischen Brauch,Psalmen zu beten, behielten die Christen bei und weiteten ihn aus. Immonastischen Offizium der Mönchsgemeinschaften wurden die Psalmen bei den Gebetszeiten fortlaufend gelesen. Im gemeindegottesdienstlich ausgerichteten Typ desKathedraloffiziums wurden die Psalmen anlassbezogen ausgewählt. Für die Vesper wurden insbesondere Psalmen mit abendlichen Motiven gewählt. Von besonderer Bedeutung war dabei stets der Psalm 141EU, dessen Beten schon früh mit dem Ritus desWeihrauchabbrennens verbunden wurde. Ein weiteres Element des Abendgebets war das rituelle Entzünden des Lichts, dasLuzernar. Die Vesper wurde bis ins Mittelalter „Luzernar“ genannt, auch als mit dem Aufkommen derbenediktinischen Klöster der tägliche Lichtritus verschwand.[5] Andere Bezeichnungen waren λυχνικόνlychnikón ‚Lichtfeier‘ oderhora incensi ‚Stunde des Verbrennens (von Weihrauch)‘.[6] Früh traten zu den PsalmenFürbitten undHymnen. Aus dem zweiten Jahrhundert stammt derChristushymnusPhōs hilarón (griech. Φῶς Ἱλαρόν), der bis heute Teil des abendlichen Stundengebets ist.
Die Vesper (preces vespertinae, ‚Abendgebet‘) bildet in der Liturgie derrömisch-katholischen Kirche zusammen mit denLaudes, dem Morgengebet, als wichtigste Horen(Horae praecipuae) den „doppelten Angelpunkt des täglichen Stundengebets“(duplex cardo Officii cotidiani) (Zweites Vatikanisches Konzil,SC 89).
Die Psalmen und Cantica, Antiphonen, Kapitel, Fürbitten und Orationen wiederholen sich an den einzelnen Wochentagen im Vier-Wochen-Rhythmus (Vierwochenpsalter), außer an Feiertagen und in der Advents-, Weihnachts-, Fasten- und Osterzeit.Hochfeste undSonntage haben ein eigenes Formular für dieerste Vesper am Vorabend und diezweite Vesper am Abend des Tages selbst, da Sonntage und Hochfeste liturgisch bereits mit der ersten Vesper beginnen.
DieFürbitten innerhalb der Vesper unterscheiden sich von den Bitten derLaudes. DiePreces der Laudes sind Bitten für den jeweiligen Tag, die Fürbitten der Vesper umfassen Fürbitten für die Kirche und die ganze Welt. Die Preces der Vesper schließen mit der Bitte für die Verstorbenen, was alter liturgischer Tradition entspricht.
DieTotenvesper, das liturgische Abendgebet mit anlassbezogenen Texten, kann in der Zeit der Trauer zwischen Tod und Beerdigung gebetet oder gesungen werden, ferner am Abend des Begräbnistages,30 Tage nach dem Begräbnis oder beimJahrgedächtnis.[7] Bei Priestern, Bischöfen und Ordensleuten gehört sie gewöhnlich zu den Trauergottesdiensten. DasGotteslob bietet hierfür eine Vorlage an (GL 655 bis 658).[8]
Mit dem Modell des Daily Evening Prayer imBook of Common Prayer knüpfte die anglikanische Kirche im 16. Jahrhundert wieder an die Tradition des abendlichen Gemeindegebets an. Sie ist gegenwärtig wohl die einzige Kirche, der es gelang, das tägliche Abendgebet in den Gemeinden lebendig zu halten. Zum altkirchlichen Erbe gehört der tägliche Hymnus „O Gracious Light“(Phos hilaron). Im heutigen Lektionar (1979) sind die Psalmen in einem Sieben-Wochen-Zyklus geordnet. Dieses Abendgebet nennt manEvening Service,Evening Prayer oder auchEvensong.
Die lutherische Kirche hat die Vesper als Abendgebet beibehalten und weiterentwickelt. So wird sie bis ins Zeitalter von Rationalismus und Aufklärung durchgängig gehalten. Insgesamt werden fünf unterschiedliche Ausprägungen der Vesper gefeiert:
Vesper mit Predigt, reicher liturgischer Ausgestaltung unter Verwendung der lateinischen Sprache
Vesper mit Predigt in schlichter Form, aber in Latein
Vesper bestehend aus Wortverkündigung und Gesang
Vesper von der Kanzel mit Katechese
Erweiterte Vesper durch eine Gebetsstunde am Sonntagabend
Seit den 1920er-Jahren bildeten sich Kreise wie die Berneuchener Bewegung, die Michaels- oder Ansverusbruderschaft, die sich zu täglichen Gebetszeiten verpflichteten und Formen eines evangelischen Tagzeitengebets, meist durch Entwicklung einer deutschen Gregorianik, erprobten. 1998 wurde das „Evangelische Tagzeitenbuch“ in neuer völlig neu gestalteter Ausgabe herausgegeben.
Mit der Agende II wurde 1960 in den evangelisch-lutherischen Kirchen eine Ordnung für die Vesper als Gemeindegottesdienst angeboten; dieses Werk wurde bei der Agendenreform bislang nicht neu herausgegeben und hat wohl insgesamt wenig Wirkung gehabt. Die Thüringische Landeskirche gab 1959 das sogenannteEvangelische Brevier heraus (5. Auflage 2001 unter dem Titel „Biblisches Brevier“). Es enthält neben Morgengebet (Mette) und Tagesgebet (Laudes) eine Ordnung für die Vesper, die im Wesentlichen der oben aufgeführten katholischen Ordnung gleicht, aber an zwei Punkten eigene Wege geht:
anstelle des Responsoriums tritt die Erklärung des Credo aus Luthers Kleinem Katechismus;
anstelle des ganzen Vaterunsers wird jedem Wochentag eine Vaterunser-Bitte zugeordnet, verbunden mit der entsprechenden Strophe aus Luthers Vaterunser-Lied.
Damit nimmt dieses Modell alte Traditionen evangelischer Wochentagsgottesdienste, die dem Unterricht im Katechismus dienten, auf und verbindet sie mit der Struktur des Stundengebets.Das ELKG (Evangelisch-Lutherische Kirchengesangbuch) für dieSelbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) druckt in Anlehnung an Agende II das Morgengebet (Mette), die Vesper und dieKomplet ab.
Die Vesper in den Kirchen desbyzantinischen Ritus (vor allem derorthodoxen Kirchen) wird besonders vor den großen Festen festlich mit der ganzen Gemeinde gefeiert, in den Klöstern wird sie täglich zelebriert. Unterschieden wird zwischen großer und kleiner Vesper.[9] Die große Vesper vereinigt in zwei aufeinanderfolgenden Teilen die monastische und die Kathedralvesper.
Weitere kleinere Gesänge und Gebete, zum Teil anlassbezogen, können hinzukommen, auch die BrotsegnungArtoklasia wird manchmal im Zusammenhang mit der Vesper gehalten.[10]
Derkoptische Ritus, der seinerseits auf die äthiopische Kirche ausstrahlte, ist stark durch den monastischen Typ des Stundengebets geprägt, was sich in einem umfangreichen Psalmen-Pensum als fortlaufende Lesung unabhängig vom Anlass niederschlägt. Das Formular des koptischen Stundenbuchs („Agpeya“) sieht täglich zur jeweiligen Gebetsstunde dieselben Psalmen und dieselben Lesungen vor, zumGebet zur elften Stunde (Vesper) die Psalmen 117, 118, 120–129, das EvangeliumLk 4,38–41 EU (Jesus heilt viele Menschen zur Zeit des Sonnenuntergangs), zahlreiche weitere Gebete und das Vaterunser. Der Psalm 51 wird zu Beginn einer jeden Hore gebetet.[11]
Paul Graff:Die Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, Band 1: Bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus; Waltrop 1994 (= 19372); S. 208–212.
Klaus Gamber:Sacrificium vespertinum. Lucernarium und eucharistisches Opfer am Abend und ihre Abhängigkeit von den Riten der Juden. Pustet, Regensburg 1983.ISBN 3-7917-0855-4.
Anton Bauer, Werner Gross:Dich rufen wir am Abend an: Betrachtungen und Bilder zu Hymnen aus dem Abendlob dem Stundenbuches. Rba, Stuttgart 1985.ISBN 3-921005-91-4.
↑Heribert Blum:Gottes Dienst an uns: Eine Einführung in die Liturgie, Kohlhammer Verlag 2017, S. 191, Kap. 7 "Die Totenvesper und das Totengebet"
↑Konrad Onasch: Art.Abendgottesdienst. In: ders.:Liturgie und Kunst der Ostkirche in Stichworten, unter Berücksichtigung der alten Kirche. Koehler & Amelang, Leipzig 1981, S. 15.
↑Liborius Olaf Lumma:Liturgie im Rhythmus des Tages. Eine kurze Einführung in Geschichte und Praxis des Stundengebets. Regensburg 2011, S. 106
↑Liborius Olaf Lumma:Liturgie im Rhythmus des Tages. Eine kurze Einführung in Geschichte und Praxis des Stundengebets. Regensburg 2011, S. 110 f.