Unica Zürn (*6. Juli1916 inBerlin-Grunewald alsNora Berta Unika Ruth Zürn; †19. Oktober1970 inParis) war eine deutscheSchriftstellerin undZeichnerin.
Nora Zürn war eine Tochter aus der zweiten Ehe des Autors und ehemaligen KolonialbeamtenRalph Zürn (1873–1930) mit Helene Pauline Heerdt. Die Ehe hält bis 1930. Ihr Vater heiratet 1931 eine Dänin und ihre Mutter im gleichen JahrHeinrich Doehle.
Nora Zürn verbrachte ihre Kindheit in der elterlichen Villa in Berlin-Grunewald. 1930 ließen diese sich scheiden, das Haus wurde verkauft. Sie besuchte inBerlin dasGymnasium, das sie jedoch vor derReifeprüfung mit 15 Jahren verließ, um ihr Geld als Schreibkraft zu verdienen. Schon früh wollte sie Schriftstellerin werden wie ihr Vater, ein ehemaliger Armee-Angehöriger, Schriftsteller, Journalist und Verleger. Von 1934 bis 1942 war sie bei derUfa angestellt, anfangs als Sekretärin undArchivarin, später alsDramaturgin für Werbefilme. 1942 heiratete sie Erich Laupenmühlen, mit dem sie zwei Kinder hatte. 1949 wurde die Ehe geschieden, der Vater bekam das Sorgerecht zugesprochen. Von 1949 bis 1955 verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verfassen von Geschichten für Hörspiele und Berliner Zeitungen. Trotz ihrer angespannten finanziellen Lage schrieb sie in dieser von ihr produktiv empfundenen Zeit zwischen 1945 und 1955 hundertzweiunddreißig Geschichten und acht Hörspiele und ließ sich vom Maler Alexander Camaro in die Grundlagen des Zeichnens einweisen.[1]
1953 lernte Zürn den KünstlerHans Bellmer kennen, mit dem sie in der Folge eine enge Beziehung verband. Zürn folgte ihm nach Paris, wo sie anfing zu zeichnen undAnagramme zu verfassen. 1953 und 1957 wurden ihre Zeichnungen in Paris ausgestellt. Ab 1957 unterhielt sie Kontakte zu den PariserSurrealistenHans Arp,André Breton,Marcel Duchamp,Max Ernst undHenri Michaux und begann mit der Arbeit ansurrealistischen Prosastücken.
Im Jahr 1959 war Unica Zürn Teilnehmerin derdocumenta II inKassel in derAbteilung Graphik. Anfang der sechziger Jahre kam bei ihr eineparanoide Schizophrenie zum Ausbruch. 1960/61 hielt sie sich daher in denWittenauer Heilstätten Berlin und von September 1961 bis März 1963 in derpsychiatrischen Klinik Centre hospitalier Sainte-Anne in Paris auf,[2] und auch in den folgenden Jahren kam es noch mehrfach zu Krankenhausaufenthalten mit halluzinatorischen Perioden und langen Depressionen. Während dieser Zeiten entstanden mehrere Hefte mit Zeichnungen.[3] Als 1967 dieKestnergesellschaft in Hannover eine Bellmer-Ausstellung zeigte, waren parallel in der dortigenGalerie Brusberg Arbeiten von Unica Zürn zu sehen. Den Sommer 1970 verbrachte sie in der offenen psychiatrischen Klinik Château de la Chesnaie de Chailles. Hier besserte sich ihr Zustand zum ersten Mal seit Ausbruch der Krankheit merklich. Am 18. Oktober wurde sie für ein paar Tage vom Klinikaufenthalt beurlaubt und verbrachte eine „Nacht ruhiger Gespräche mit dem Gefährten“ Bellmer.[3] Am Tag daraufnahm sie sich das Leben, indem sie aus dem Fenster ihrer und Bellmers Wohnung sprang. Bellmer starb 1975 vereinsamt in Paris. Unica Zürns und Hans Bellmers Grabstelle liegt auf demCimetière du Père-Lachaise (Division 9).
Unica Zürns literarisches Werk, das zu Lebzeiten wenig beachtet wurde, besteht zum einen ausautobiografisch geprägter und häufigfragmentarischerProsa, die vor allem ihre Liebesbeziehungen, ihre Krankheit und deren Behandlung zum Thema hat, zum anderen auspoetischen Texten, von denen ihre 123Anagramm-Gedichte am bedeutendsten sind.
Die bekanntesten Schriften und Kunstwerke von Zürn entstanden zwischen 1950 und 1970. Zürns Umzug nach Paris ermöglichte es ihr, offen über Themen wie häusliche Gewalt, Abtreibung und sexueller Missbrauch zu schreiben.[4][5] In Deutschland hatte sie ihren Roman nicht veröffentlichen können.[4][5] Zu den von ihr publizierten Texten gehörenHexentexte (1954), ein Buch bestehend aus Anagrammgedichten und Zeichnungen, sowieDunkler Frühling (1967) undDer Mann im Jasmin (1971), die sich beide in Paris einer großen Beliebtheit erfreuten.[6][7] Eine Aggression dem weiblichen Körper gegenüber zeigt sich in Zürns Erzählungen,[8] welche häufig aus inneren Dialogen bestehen.
Der Großteil ihrer späteren Texte folgt Zürns eigenen Lebenserfahrungen.Dunkler Frühling ist eine ArtEntwicklungsroman, welcher von den ersten sexuellen Begegnungen einer jungen Frau sowie den ersten Anzeichen ihrer psychischen Erkrankung erzählt. Zahlreiche archetypische Figuren prägen den Roman: der idealisierte Vater, die geächtete Mutter und das problembeladene Mädchen mit masochistischen Tendenzen.[9] Ebenso scheint Zürns Tod im Text vorausblickend angedeutet zu werden, zumal sich schließlich die Protagonistin vonDunkler Frühling durch einen Sprung aus ihrem Schlafzimmerfenster das Leben nimmt.
Zu Zürnsvisuellen Arbeiten zählen Ölmalerei, Aquarelle, Skizzen, Tintenzeichnungen und Postkarten.[5] Zwar produzierte Zürn einige Malereien in den frühen 1950er Jahren, doch arbeitete sie vor allem mit Tinte, Bleistift undGouache.[10] Ihre fantastischen, präzise umgesetzten Arbeiten werden bevölkert von imaginären Pflanzen, Chimären und amorphen humanoiden Formen, welche manchmal mehrere Gesichter, die aus ihren verzerrten Körpern hervorgehen, aufweisen. Augen sind dabei allgegenwärtig,[11] und die Zeichnungen sind geprägt von komplizierten und sich wiederholenden Markierungen. Gewalt und Verformung sind zwei charakteristische Eigenschaften, die sowohl im Herstellungsprozess als auch im Endprodukt von Zürns visuellem Werk vorhanden sind.[5] Sie behandelte das Zeichnen als einen Schöpfungsprozess, der von einer Zerstörung oder Dekonstruktion der Form abhängt und das Bild transformiert.[5] Das Dekonstruktive zeigt sich auch in Zürns Rekreation von Bedeutung und Wörtern in ihren Anagramm-Schriften.[5] Im Gegensatz zu ihren Schriften zirkulierten ihre grafischen Arbeiten kaum außerhalb von Privatsammlungen, Auktionen, Galerielagern und nationalen Archiven.[5] Während ihrer Karriere setzte sich Zürn nicht beständig für das Bekanntwerden ihrer visuellen Arbeiten ein.[5]
Im Jahr 1953 stellte Zürn erstmals ihre automatischen Zeichnungen in der GalerieLe Soleil dans la Tête in Paris aus.[12] André Breton, Man Ray, Hans Arp, Joyce Mansour, Victor Brauner und Gaston Bachelard gehörten zu den Künstlern, welche die Ausstellung besuchten. Zürns Arbeiten wurden gut aufgenommen. Doch trotz dieses Erfolgs bewarb Zürn ihre visuellen Arbeiten weiterhin nicht aktiv.[12]
Ihre großformatige ArbeitUntitled (1965)[13] zeigt sich wiederholende und überlappende menschliche Köpfe im Mittelpunkt.[4][5] Die 65 × 50 cm große Zeichenfläche[13] ist gefüllt mit runden Linien, welche eine Mehrzahl an veränderbarer Porträts erzeugen. Zürn nutzte hierbei primär Tinte und Gouache.[13] Jedes Gesicht verändert und verschmilzt dabei mit einem der anderen Porträts in diversen Größen und Expressionen.[4][5] Das Übereinander-Schichten all dieser Zeichnungen generiert eine monströse Entität, wobei die Repetition das Gesicht manipuliert und entstellt.[4][5] Zürns Schichten von Gesichtern macht es für den Betrachter unmöglich, die Anzahl der abgebildeten Personen im Porträt zu bestimmen, ohne nicht zunehmend weitere Kombinationen von Augen, Nasen, Lippen und Augenbrauen zu finden und damit neue Porträts zu erschließen.[4][5]
Zürns Zeichenmethode, das manuelle, repetitive Schichten von Linien, ähnelt dem Prozess des Anagramm-Schreibens[4][5], bei dem neue Wörter und Sätze aus den vorhandenen Buchstaben eines anderen Wortes oder Satzes geschaffen werden. Viele ihrer Bildkompositionen teilen diese facettenreiche Qualität und entwickeln eine visuelle Sprache von Rekonstruktion und Transformation.[4][5]
Zürn ist laut Suleiman eine der wenigen Frauen, die mit der surrealistischen Bewegung assoziiert werden; andere sind beispielsweiseLeonora Carrington,Dorothea Tanning,Kay Sage,Eileen Agar,Ithell Colquhoun,Toyen,Leonor Fini undValentine Hugo.[7]
Rainer Werner Fassbinders FilmdramaDespair – Eine Reise ins Licht (1978) ist nebenAntonin Artaud undVincent van Gogh auch Unica Zürn gewidmet.
Oskar Pastior fand für Unica Zürns Namen das Anagramm:„Unica Zuern – Azur in nuce“ (‚Himmelsblau in einer Nußschale‘).[14]
Personendaten | |
---|---|
NAME | Zürn, Unica |
ALTERNATIVNAMEN | Zürn, Nora Berta Unica Ruth (vollständiger Name) |
KURZBESCHREIBUNG | deutsche Zeichnerin und Prosa-Schriftstellerin |
GEBURTSDATUM | 6. Juli 1916 |
GEBURTSORT | Berlin-Grunewald |
STERBEDATUM | 19. Oktober 1970 |
STERBEORT | Paris |