DerUngarische Volksaufstand (inUngarn selbst eher als56-os forradalom oder selteneroktóberi forradalom, deutsch: „Revolution von 56“ oder „Oktoberrevolution“ bekannt) bezeichnet die bürgerlich-demokratischeRevolution (ungarischforradalom) und denFreiheitskampf (ungarischszabadságharc) von 1956 in derVolksrepublik Ungarn, bei denen sich breite gesellschaftliche Kräfte gegen die Regierung derkommunistischen Partei und dersowjetischen Besatzungsmacht erhoben.
Die Revolution begann am 23. Oktober 1956 mit einer friedlichen Großdemonstration der Studenten der Universitäten inBudapest, diedemokratische Veränderungen forderten.Die Regierung ließ am Abend in die schnell wachsende Menge schießen, woraufhin der bewaffnete Kampf ausbrach. Binnen weniger Tage wurde dieEinparteidiktatur durch eine Regierung unter der Leitung vonImre Nagy abgelöst, in der auch die Bauernpartei und die Kleinlandwirtepartei Ministerien erhielten. Diese Regierung bildete sich innerhalb von acht Tagen noch zweimal um und beteiligte auch noch die sozialdemokratische Partei. Ungarn trat aus demWarschauer Pakt aus, erklärte seineNeutralität und rief dieSowjetarmee zum Verlassen des Landes auf.
Der Freiheitskampf endete mit der Invasion der durch Einmarsch verstärkten übermächtigen Sowjetarmee, die am 4. November 1956 eine pro-sowjetische Regierung unterJános Kádár installierte. Die Kämpfe gegen sie dauerten in Budapest eine Woche, an einzelnen Orten mehrere Wochen lang, im Gebirge sogar bis Anfang 1957. DerWesten unterstützte die Aufständischen verbal, dieNATO hielt sich jedoch von einer militärischen Konfrontation mit den Staaten des Warschauer Pakts zurück. Nach der Niederschlagung des Freiheitskampfes wurden hunderte Aufständische – unter ihnen Imre Nagy undPál Maléter – durch die kommunistischen Machthaber hingerichtet, zehntausende wurden eingekerkert oder interniert. Hunderttausende Ungarn flüchteten vor der Diktatur in den Westen. Der Aufstand wurde vom Kádár-Regime stets als „Konterrevolution“ bezeichnet, die öffentliche Nennung als Revolution wurde geahndet. Seit 1989 ist der 23. Oktober einNationalfeiertag inUngarn.
Vorgeschichte
Nach der BesetzungUngarns durch dieRote Armee 1945 und der Entmachtung derPfeilkreuzler und derdeutschen Besatzungsmacht entstand eine von den Kommunisten getragene demokratische Volksbewegung. Die Kommunisten wurden zu einer wesentlichen politischen Kraft und waren mit zwei Ministern an derProvisorischen Nationalregierung beteiligt, der außerdem drei Sozialdemokraten, zwei Minister derPartei der kleinen Landwirte sowie ein Minister der Bauernpartei angehörten. Ferner erhielten drei ehemalige Militärs und ein Adliger ein Ministeramt. Die wichtigsten Posten lagen dabei in den Händen der linken Parteien, während die anderen Parteien relativ bedeutungslose erhielten. Der Außenminister etwa war ohne Bedeutung, da alle Beziehungen zum Ausland über die von der Sowjetunion dominierteAlliierte Kontrollkommission laufen mussten.
Da damals mehr als die Hälfte der Ungarn von der Landwirtschaft lebte, war eines der ersten Projekte 1945 die Durchführung einerBodenreform, durch welcheGroßgrundbesitzerenteignet wurden und Kleinbauern eigenes Land erhielten. Die Großgrundbesitzer verloren dadurch auch politisch an Macht. Verantwortlich für die Bodenreform war der kommunistische LandwirtschaftsministerImre Nagy.
Da Ungarn ohnehin von sowjetischen Truppen besetzt war und die Sowjets die Alliierte Kontrollkommission führten, während sich internationalzwei politische Lager herausbildeten, geriet Ungarn immer stärker in den sowjetischen Machtbereich.
Bei derParlamentswahl vom 4. November 1945 kam diePartei der kleinen Landwirte auf 57 % der Stimmen, die Kommunisten nur auf 17 %. Auf Druck der Sowjets waren die Kommunisten dennoch an der neuen Koalitionsregierung beteiligt und stellten vier von 18 Ministern. Die sowjetischen Truppen blieben auch nach Abschluss desFriedensvertrags vom 10. Februar 1947 im Land mit der Begründung, die Verbindung zu den inÖsterreich stationierten Truppen zu halten.
Der im März 1946 gegründete Linksblock aus Kommunisten und Sozialdemokraten, Mitgliedern der Nationalen Bauernpartei und Gewerkschaftern trat geschlossen gegen die Partei der Kleinen Landwirte an. Die Kommunisten übernahmen durch Anwendung der „Salamitaktik“, des scheibchenweisen Reduzierens des demokratischen Systems, immer mehr die Macht im Staat. Sie sicherten sich den entscheidenden Einfluss im Innenministerium und denSicherheitsorganen. Vermeintliche und tatsächliche politische Gegner wurden durch die politische Polizei eingeschüchtert und ausgeschaltet. Die Aufdeckung angeblicher Verschwörungen führte zu politischen Säuberungen und zur Ausschaltung des rechten Flügels der Partei der kleinen Landwirte. Am 30. Mai 1947 trat MinisterpräsidentFerenc Nagy zurück. Nachfolger wurdeLajos Dinnyés vom linken Flügel der Partei.
Bei den bereits unter Einschüchterung stattfindendenNeuwahlen des Parlaments am 31. August 1947 erhielt der Linksblock 61 %. Die vom Linksblock gebildeteVolksfrontregierung verfolgte ein kommunistisches Programm, obwohl sich der Stimmenanteil der Kommunisten nur auf 22 % belaufen hatte. Die Regierung betrieb dieVerstaatlichung der Banken, der Bergwerke, der Schwerindustrie und aller Industriebetriebe mit mehr als 100 Mitarbeitern.
Am 12. Juni 1948 wurde die Kommunistische Partei mit der Sozialdemokratischen Partei zurMagyar Dolgozók Pártja (MDP, deutschPartei der Ungarischen Werktätigen) vereinigt. Die Oppositionsparteien im Parlament verschwanden durch Emigration ihrer führenden Vertreter und durch die Aberkennung von Mandaten.
Die MDP konzentrierte sich darauf, den kommunistischen Machtapparat auszubauen. Bei der Wahl zurNationalversammlung im Mai 1949 erreichte dieEinheitsliste 95,6 % Ja-Stimmen. Am 20. August 1949 trat eine neueVerfassung in Kraft, die der sowjetischen Verfassung von 1936 nachempfunden war. Damit wurde aus Ungarn einArbeiter-und-Bauern-Staat; dieGewaltenteilung wurde aufgehoben und ein 21-köpfiger Präsidialrat als kollektivesStaatsoberhaupt eingeführt, der zwischen den Sitzungen des Parlaments dessen Befugnisse hatte.
Der sich umMátyás Rákosi herausbildendePersonenkult wurde begründet mit derstalinistischen These der ständigen Verschärfung des nationalen und internationalenKlassenkampfes. Alle Macht in Staat und Partei befand sich in Rákosis Hand, der sich selbst auch als den besten SchülerStalins bezeichnete. Der Personenkult führte zu einer Atmosphäre desTerrors durch die Staatssicherheitsbehörde. Es fanden eine große Zahl vonSchauprozessen gegen vermeintliche politische Gegner statt. Diesen Prozessen fielen auch kommunistische Parteimitglieder und Mitglieder der Regierung zum Opfer, so etwa der 1949 hingerichtete frühere InnenministerLászló Rajk. Zu den Inhaftierten zählte auch der spätere ParteichefJános Kádár. Insgesamt wurden Verfahren gegen mehr als eine Million Menschen, rund zehn Prozent der Bevölkerung, eingeleitet. Viele Menschen wurden ohne Anklage und Gerichtsverfahren in Lager gesteckt und mussten Zwangsarbeit verrichten.
Mit der vorzeitigen Erfüllung des Drei-Jahres-Planes war die imZweiten Weltkrieg zerstörte Infrastruktur Ungarns offiziell wiederhergestellt. Allerdings wurden in dem Plan mechanisch die ökonomischen Praktiken der Sowjetunion übernommen: So flossen Investitionen vor allem in die Schwerindustrie. Auch dies wurde mit der Verschärfung des Klassenkampfes und der darauf basierenden Angst vor einem neuen Krieg begründet. Dabei wurden die Bedürfnisse der Landwirtschaft und des Lebensstandards der Bevölkerung nicht berücksichtigt. In der Landwirtschaft verringerte dieZwangskollektivierung die Erträge, so dass Ungarn als ehemaliges Agrar-Exportland sogar Lebensmittel importieren musste.
Durch die sowjetische Besatzung befand sich Ungarn sowohl politisch als auch – vermittelt über die streng moskautreue Parteiführung – wirtschaftlich in völliger Abhängigkeit von der Sowjetunion. So bedurfte selbst nach Abschluss des Friedensvertrages jede außenpolitische Entscheidung der Zustimmung durch die Sowjetunion. Es galt als offenes Geheimnis, dass die ungarische Wirtschaft in erster Linie den Interessen der Sowjetunion dienen musste.
Reformen unter Imre Nagy, Restauration, innerparteiliche Opposition, der Posener Aufstand
Nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 kam in der SowjetunionNikita Chruschtschow an die Macht. Im Rahmen der anti-stalinistischen Säuberungen musste auch Rákosi einen Teil seiner Macht abgeben. Am 4. Juli 1953 wurde der frühere Landwirtschaftsminister Imre Nagy neuer Ministerpräsident. Parteichef blieb jedoch Rákosi.
Imre Nagy distanzierte sich deutlich von der Politik seines Vorgängers. Statt die Schwerindustrie weiter auszubauen, förderte Nagy die Landwirtschaft und die Konsumgüterindustrie. Bauern durften aus denLandwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wieder austreten. Der Lebensstandard stieg. Viele Opfer von Rákosis Personenkult wurden, wenn auch nur stillschweigend und ohne Entschädigung, rehabilitiert. Er setzte die Gulaglisten und auch die ungarischen Arbeitslager selbst außer Kraft und sprach damit 750.000 Menschen von ihrer Schuld frei, darunter auchJános Kádár. Außerdem veranlasste er die Untersuchung der politischen Schauprozesse umLászló Rajk von 1949.[1]
Innerhalb der Partei versuchte die dogmatische Gruppe um Rákosi, die Reformpolitik zu unterminieren. Imre Nagy verlor diesen Machtkampf und wurde im April 1955 wieder abgesetzt und einige Monate später aus der Partei ausgeschlossen. Es folgte eine Phase der Restauration. Im Februar 1956 hielt der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow auf demXX. Parteitag der KPdSU seine GeheimredeÜber den Personenkult und seine Folgen mit scharfer Kritik an den stalinistischen Verbrechen. In Ungarn kamen daher in der Partei Forderungen nach Überprüfung der Parteilinie und Bestrafung der Schuldigen auf. Der Parteivorsitz ging von Matyás Rákosi auf seinen StellvertreterErnő Gerő über, der jedoch kaum beliebter als Rákosi war. Der Unzufriedenheit insbesondere unter Intellektuellen war damit nicht beizukommen.
Im Laufe des Herbstes entstanden in fast allen Universitätsstädten Diskussionsforen nach dem Vorbild desPetőfi-Kreises, eines Diskussionszirkels junger Literaten, die sich ab Anfang 1956 zunehmend politischen Themen widmeten. Aus diesen parteiinternen Diskussionskreisen ging dann der Studentenprotest hervor.
Die Witwe des unter Rákosi hingerichteten früheren Ministers László Rajk forderte gemeinsam mit der parteiinternen Opposition die Neubestattung ihres Mannes und Rehabilitierung der Kommunisten unter den Opfern des Rákosi-Systems. Die Regierung gab schließlich nach. Am 6. Oktober 1956 wurdeLászló Rajk neu bestattet. An dem Trauermarsch beteiligten sich Hunderttausende und setzten damit ein deutliches politisches Zeichen.
Studenten forderten die Autonomie ihrer Organisationen. In der Stadt Szeged fand am 16. Oktober die Neugründung des ehemaligen unabhängigen HochschulverbandesMEFESZ statt.
InPolen wurde nach demArbeiteraufstand von Posen vom Juni 1956 der populäre, 1949 aus der Parteiführung verdrängte und dann drei Jahre lang inhaftierteWładysław Gomułka am 21. Oktober 1956 gegen den Willen der sowjetischen Führung zum ersten Sekretär des ZK derPolnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) gewählt. Verhandlungen mit den angereisten sowjetischen Führern konnten diese von einer militärischen Intervention in Polen abbringen. Im Gegenzug versprach Gomułka, die enge Bindung Polens an die Sowjetunion beizubehalten. Gomułkas Parteitagsrede wurde in der ungarischen ParteizeitungSzabad Nép abgedruckt. Die innerparteiliche Opposition in Ungarn hoffte auf einen ähnlichen Ausgang der Krise in Ungarn.
Um ihren Forderungskatalog, der in unterschiedlichen Versionen zwischen 10 und 16 Punkten enthielt, bekannter zu machen, brachten gewählte Vertreter ihn in andere Hochschulen, in Betriebe und zu lokalen und zentralen Behörden und Institutionen. Nachdem der Ungarische Rundfunk sich geweigert hatte, die Forderungen bekanntzumachen, riefen die Studenten für den 23. Oktober zu einer Demonstration auf, um ihre Solidarität mit den Reformern in Polen zu zeigen und die eigenen Forderungen zu unterstreichen.
Im Zuge dieser Massendemonstration begann der Ungarische Volksaufstand.
Die Lage 1956 in der Sowjetunion
Am 25. Februar 1956 kritisierte Chruschtschow in einer „Geheimrede“ auf dem20. Parteitag der KPdSU denPersonenkult um Stalin und Stalins Verbrechen. Die sowjetische Führung leitete in der Folge eine grundlegende Wende in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik ein, die alsEntstalinisierung bekannt wurde. Es entwickelte sich dieTauwetter-Periode: innen- und außenpolitisch kehrte eine gewisse Entspannung ein. Chruschtschow ließ zahlreiche Straflager (Gulag) schließen und unschuldig Inhaftierte entlassen. Ganze Bevölkerungsteile wurden rehabilitiert.Die Entstalinisierung setzte auch politische Entwicklungen in Gang, die Teilen der sowjetischen Führung Sorgen machten.Die zunehmende Liberalisierung in einigen Staaten des Warschauer Pakts veranlasste Strukturkonservative in der sowjetischen Führung zu der Sorge, die Entstalinisierung könnte „außer Kontrolle geraten“.
Internationale Lage
Die internationale Politik war in diesen Tagen durch dieSuezkrise geprägt. Großbritannien und Frankreich bereiteten zusammen mit Israel eine Besetzung des Suezkanals vor. Am 24. Oktober unterzeichneten die drei Staaten ein geheimes Abkommen – die Vorbereitungen hielt man auch vor den USA geheim. Am 29. begann Israel einen Vormarsch; am 31. Oktober begannen Großbritannien und Frankreich mit der Bombardierung ägyptischer Flughäfen.
Um eine Eskalation des Konfliktes zu vermeiden, entschloss sich Washington, mit der Sowjetunion eineUniting-for-peace-Resolution anzustreben (sie überträgt die Entscheidung über die Resolution der Generalversammlung der UN ohne Veto-Möglichkeit der ständigen Mitglieder). Am 2. November 1956 forderte die UNO nur von Israel die Einstellung der Kampfhandlungen und den Rückzug hinter die Waffenstillstandslinie, am 4. November die Aufstellung einer UNO-Friedenstruppe.[2]
Am 5. November – also einen Tag nach dem Beginn ihres Einmarsches in Ungarn – drohte die Sowjetunion gegenüber Frankreich und Großbritannien,mit der Anwendung von Gewalt die Aggressoren zu vernichten und den Frieden im Nahen Osten wiederherzustellen.[3] ParteichefChruschtschow sprach sogar von der – militärisch nicht verwirklichbaren – Zerstörung der westlichen Hauptstädte mit Atomwaffen.[4] An Israel richtete der sowjetische MinisterpräsidentBulganin die Warnung: „Als Vollstrecker eines fremden Willens und im Auftrag anderer treibt die Regierung Israels ein verbrecherisches und unverantwortliches Spiel mit dem Schicksal der Welt, mit dem Schicksal ihres eigenen Volkes. Sie sät unter den Völkern des Ostens einen Hass, der sich auf die Zukunft Israels auswirken muss und seine staatliche Existenz in Frage stellt...Wir erwarten, dass die Regierung Israels sich eines Besseren besinnt, ehe es zu spät ist, und ihre militärischen Operationen gegen Ägypten einstellt.“[3] Gleichzeitig rief sie ihren Botschafter aus Tel Aviv ab.
Am Tag darauf stellten Großbritannien, Frankreich und Israel die Kampfhandlungen ein.Am 22. Dezember 1956 wurde der Kriegsschauplatz wieder geräumt; am 7. März 1957 verließen die letzten israelischen Soldaten ägyptisches Territorium. Die UNO-Vollversammlung hatte zuvor die Forderung nach Truppenrückzug am 24. November 1956, am 19. Januar 1957 und am 2. Februar 1957 wiederholt.[3]
Dass Großbritannien und Frankreich versuchten, Ägypten durch militärische Aggression zur Rückgabe des Suezkanals zu zwingen und sein Regime zu stürzen, während zur selben Zeit die Rote Armee den Ungarischen Volksaufstand niederschlug, stellte die drei Angreifer-Länder in der öffentlichen Wahrnehmung auf die gleiche spätimperialistische[5] Stufe.Die bis dahin „letzte Entfaltung des imperialen Machismo“ löste weltweit Empörung und Kritik aus.[6]
Man kann sagen, dass die Suezkrise und ihr zeitlicher Verlauf der Sowjetunion äußerst gelegen kam: die UN-Diplomatie war durch die Suezkrise stark beschäftigt; sie fand in Öffentlichkeit und Medien große Aufmerksamkeit.
Verlauf
Der eigentliche Volksaufstand dauerte vom 23. Oktober bis zum 4. November, als die sowjetische Armee mit überlegenen Kräften einmarschierte und eine moskautreue Regierung einsetzte. Bis zum 16. November hatte sie dann praktisch das ganze Land unter ihrer Kontrolle. Aber auch die Zeit danach war durchsetzt von Verfolgung und Niederschlagung der letzten Widerstand leistenden Gruppen.
Die Studenten wollten mit dieser Demonstration aber weitere politische Interessen kundtun. Sie trafen den Nerv der Ungarn, die sich zu Tausenden dem Demonstrationszug anschlossen. Der Zug endete zunächst amJosef-Bem-Platz auf derBudaer Donauseite, wo die Forderungen der Studenten verlesen wurden. Obwohl fast keine Verstärker verwendet wurden, strömten immer mehr Menschen zu dieser Massenkundgebung.
Ein Teil der Demonstranten zog zum Parlament weiter, ein Großteil zum Rundfunkgebäude vonMagyar Rádió auf der Pester Donauseite. Dort wollten sie ihre Forderungen über diesen staatlichen Sender verbreiten. Aus dem Rundfunkgebäude wurde auf die Demonstranten geschossen.Dank ungarischer Soldaten gelangten die Demonstranten an Waffen, so dass sie sich zur Wehr setzen konnten; sie stürmten das Gebäude.
Am Abend versammelten sich circa 200.000 Menschen vor demParlament und fordertenMeinungs- undPressefreiheit,freie Wahlen, mehr Unabhängigkeit von derSowjetunion sowie die Ernennung des reformorientierten KommunistenImre Nagy zum Regierungschef.[8] Nagy, der die Demonstranten aufforderte, nach Hause zu gehen, wurde überraschend noch in derselben Nacht vomZentralkomitee derPartei der Ungarischen Werktätigen zumMinisterpräsidenten berufen.Unterdessen hatte die Sowjetunion begonnen, militärisch einzugreifen, noch bevor ParteichefErnő Gerő darum ersucht hatte. Allerdings gab Gerő aus eigenem Antrieb noch am Abend desselben Tages Befehl, das Feuer auf die „waffenlose Masse“ zu eröffnen, obwohl er wenige Stunden zuvor das Gegenteil versprochen hatte. „Niemand hat die Toten dieses Abends gezählt.“[9]
Im Laufe des Abends hatten Demonstranten dasStalin-Denkmal auf demFelvonulási tér amStadtwäldchen gestürzt und vor das Parlamentsgebäude gezogen. Laut einer Legende hatten die aufständischen Studenten und Schüler entschieden, dass die Stiefel der Stalin-Statue bleiben sollten, weil sie aus Ungarn stammen. Daher wurde die bronzene Statue über den Knien mit einem Schweißgerät abgeschnitten. Wahrscheinlicher sind praktische Erwägungen. Später wurde die Statue zerschlagen.
Vom 24. Oktober bis zum 4. November
Ab dem 24. Oktober weitete sich der Aufstand auf andere Städte aus. Es entstanden Arbeiter-, Revolutions- und Nationalräte. Ein landesweiterGeneralstreik setzte ein. Die ersten unabhängigen Zeitungen erschienen.
Am 25. Oktober wurde der erste Parteisekretär Ernő Gerő abberufen und durchJános Kádár ersetzt. Vor dem Parlamentsgebäude wurde geschossen. Ob es sich bei den Schützen um Angehörige des gefürchteten StaatssicherheitsdienstesÁVH, der Roten Armee oder andere handelte, konnte nie ganz geklärt werden.[10] Mehr als 100 Menschen starben bei diesem Vorfall.
Am 27. Oktober gab Imre Nagy seine neue Regierung und die Auflösung des ÁVH bekannt, am darauf folgenden Tag die Anerkennung der Revolution.
Am 30. Oktober verkündete Nagy das Ende der Einparteienherrschaft und bildete eine Mehrparteienregierung. Die Sowjetunion ließ sich zunächst scheinbar auf Verhandlungen über einen Abzug ein, bereitete jedoch bereits einen Angriff vor (sowjetischer Botschafter in Budapest warJuri Andropow, der spätere KGB-Chef und Generalsekretär der KPdSU). Am gleichen Tag wurde einer der bekanntesten Regimekritiker, der ungarische KardinalJózsef Mindszenty, aus der Haft befreit. Es kam zuLynchjustiz an Geheimdienstlern und Parteifunktionären.
Nachdem Nagy am 1. November die Neutralität Ungarns erklärte und das Land aus demWarschauer Pakt austrat, begannen die Truppen der Sowjetunion mit der Niederschlagung des Volksaufstandes und besetzten u. a. dasParlamentsgebäude. Bewaffnete Gruppen nahmen den Widerstand wieder auf.
Nach dieser „Absetzung“ der letzten Koalitionsregierung Nagys wurde am 4. November inSzolnok folgendesKabinett konstituiert, das sich als „Ungarische Revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung“ bezeichnete:
Staatsminister ohne PortefeuilleGyörgy Marosán, KP, ehemaliger Sozialdemokrat
4. bis zum 15. November
Bei heftigen Kämpfen getötete Menschen, zerstörte sowjetischeT-34 Panzer und beschädigte Häuser amNagykörút.
Vom 4. bis zum 15. November tobten heftige Kämpfe im Land, speziell in der HauptstadtBudapest. Die Zivilbevölkerung griff für die Regierung zu den Waffen, litt jedoch an Munitionsmangel und war den sowjetischen Streitkräften an Personal und Material hoffnungslos unterlegen, so dass die Niederlage vorbestimmt war. Die Kämpfe forderten auf ungarischer Seite etwa 2500 Tote, die sowjetischen Truppen verloren nach eigener Darstellung 720 Mann. Einzelne Schätzungen gehen von höheren Zahlen aus.
Vor und während des Aufstandes wurde den Aufständischen überRadio Free Europe militärische Unterstützung durch den Westen versprochen, was dieser aber nach US-amerikanischen Regierungsdokumenten zu keinem Zeitpunkt beabsichtigte. Trotzdem spornte dies die Aufständischen zu weiterem Widerstand an. Die gleichzeitig stattfindendeSuezkrise und die damit einhergehende Verstimmungen zwischen Frankreich/Großbritannien und den USA verhinderten zusätzlich eine einheitliche Reaktion der Westmächte.
Zeit nach dem 16. November
Trotz des Einmarsches derSowjetarmee leisteten immer noch einzelne Gruppen Widerstand. Doch mit der Zeit begann eine Massenflucht über das seit 1955 nicht mehr besetzteÖsterreich in den Westen. Die meisten Flüchtlinge wurden im RaumWien gesammelt und mit dem Notwendigsten versorgt. In Ost-Österreich entstanden eine Reihe von Flüchtlingslagern; zum Teil dort, wo ein Jahr zuvor erst die sowjetischen Besatzungstruppen nach demStaatsvertrag abgezogen waren, wie inTraiskirchen oder demSchloss Liechtenstein inMaria Enzersdorf.[11]
Da Österreich nicht alle Flüchtlinge aufnehmen konnte, wurden viele auf andere westliche Staaten verteilt. Die meisten Ungarn durften sich dabei ein Land und mitunter eine bestimmte Region in diesem Land aussuchen. Viele davon gingen nach Übersee, etwa 70.000 blieben dauerhaft in Österreich. Insgesamt flohen über 200.000 Ungarn ins westliche Ausland, mehr als 70.000 davon über dieBrücke von Andau, die über denEinser-Kanal führt.
Um den Fluchtweg abzuschneiden, wurde die alte Holzbrücke am Nachmittag des 21. November 1956 gesprengt. Zum Gedächtnis wurde 40 Jahre später die Brücke von Andau in Zusammenarbeit österreichischer und ungarischerPioniere wieder errichtet und am 14. September 1996 feierlich eröffnet.
1957 gründeten geflüchtete Ungarn inBaden das OrchesterPhilharmonia Hungarica, das seinen Sitz seit 1960 inMarl (Westfalen) hatte und den künstlerischen und faktischen Rang eines Staatsorchesters der Bundesrepublik Deutschland erreichte. Heute findet das Orchester seine Fortführung in derNeuen Philharmonia Hungarica.Hessen fasste die in diesem Bundesland als Flüchtlinge angekommenen Oberschüler in einem Internat imRheingau zusammen, sodass 66 ungarische Jugendliche in den Jahren 1958 bis 1961 an derRheingauschule inGeisenheim das deutscheAbitur ablegen konnten.
Niederschlagung und „Säuberungen“
Imre Nagy wurde am 22. November verhaftet, obwohl man ihm Straffreiheit zugesichert hatte, und im Juni 1958 nach einemstreng geheimen Prozess mit anderen Anführern des Volksaufstandes wie dem VerteidigungsministerPál Maléterhingerichtet. 350 weitere Personen wurden hingerichtet, nach dem Erreichen seines 18. Geburtstages auch der FachschülerPéter Mansfeld. Im Anschluss an den Aufstand kam es zuSäuberungswellen. Neuer Ministerpräsident wurdeJános Kádár, der außenpolitisch einen streng moskautreuen Kurs verfolgte, nach einer Phase der Restauration innenpolitisch jedoch Reformen durchführte (sieheGulaschkommunismus). Kádár war von 1956 bis 1988 Parteichef (Erster bzw. Generalsekretär derUngarischen Sozialistischen Arbeiterpartei).Ministerpräsident war er von 1956 bis 1958 und von 1961 bis 1965 (sieheListe der Ministerpräsidenten Ungarns).
Ziele und Forderungen der Aufständischen
Der Aufstand hatte sowohl nationalen als auch anti-totalitären Charakter.
Nationale Unabhängigkeit
Die Studenten der BudapesterTechnischen Universität forderten, als notwendige Voraussetzung für Reformen, den Abzug dersowjetischen Truppen und darüber hinaus die Wiedereinführung der ungarischen Nationalfeiertage und Staatssymbole. Außerdem forderten sie die Entfernung der Stalin-Statue. Bezeichnenderweise begann ihre Demonstration am 23. Oktober am Denkmal des polnischen GeneralsJosef Bem, der 1849 als Befehlshaber für die Revolution und die nationale Unabhängigkeit kämpfte.
Das Kossuth-Wappen – Symbol des Aufstandes
In Forderungskatalogen tauchte auch die Forderung auf, dasKossuth-Wappen, welches das Emblem derRevolution von 1848 und im Jahr 1946 Staatswappen war, wieder einzuführen, ebenso den 15. März (Gedenktag der Revolution von 1848) alsNationalfeiertag, sowie die nach sowjetischem Vorbild gestalteten Uniformen abzuschaffen. Nach Ausbruch des Aufstandes wurde die Forderung erhoben, den 23. Oktober zum Nationalfeiertag zu erklären.
Die Forderung nach Überprüfung der internationalen Vereinbarungen und Außenhandelsverträge richtete sich gegen den Abhängigkeitsstatus gegenüber der Sowjetunion. Generell wurde die Beendigung der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit gefordert.
Nach der sowjetischen Intervention am 24. Oktober hatte sich aus dem Aufstand gegen die stalinistische Diktatur ein nationalerFreiheitskampf entwickelt. Die wichtigste Forderung war nun der sofortige Abzug der gegen die Revolution eingesetzten sowjetischen Truppen. Ein Erfolg der demokratischen Umgestaltung schien nur ohne Präsenz sowjetischer Truppen möglich, da diese das alte System mit militärischer Gewalt verteidigten.
Um den 29. Oktober reichten die EntmachtungErnő Gerős, des bisherigen MinisterpräsidentenAndrás Hegedüs und die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes für eine Stabilisierung der Lage jedoch nicht mehr aus. Die bewaffneten Aufständischen, die politischen Gruppierungen, Arbeiterräte undRevolutionskomitees forderten neben dem vollständigen Abzug der sowjetischen Truppen den Austritt Ungarns aus demWarschauer Pakt und die Erklärung derNeutralität Ungarns.
Demokratie und politische Freiheiten
In ihrer Erklärung forderten die Studenten der Technischen Universität Budapest einMehrparteiensystem, freieWahlen und bürgerliche Freiheitsrechte. Sie verlangten die Bestrafung der Schuldigen des Rákosi-Regimes, darunterMátyás Rákosi und der ehemalige ZK-SekretärMihály Farkas, die Abschaffung der Ablieferungsquoten in der Landwirtschaft, das Streikrecht,Meinungs-,Presse- undVersammlungsfreiheit.
Während der Demonstrationen am Nachmittag und Abend des 23. Oktober forderten die Massen u. a. die Verlesung der studentischen Forderungen im Rundfunk und die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Imre Nagy.
Die von den Studenten formulierten Forderungen wurden schnell Allgemeingut unter den Aufständischen. Ferner erhoben dieArbeiterräte, die etwa anderthalb Millionen Menschen vertraten, Anspruch auf Beteiligung an der Macht. Die Arbeiterräte forderten ausnahmslos dasStreikrecht. Der Arbeiterrat im Industrierevier Csepel forderte bereits am 24. Oktober ausdrücklich dieReligionsfreiheit.
Nachdem am 25. Oktober Einheiten des Staatssicherheitsdienstes bei einer Demonstration vor dem Parlamentsgebäude durch Schüsse in die Menge mehr als 100 Menschen töteten, wurde überall die sofortige Auflösung des Sicherheitsdienstes gefordert.
Gedenken
Im Jahr 1991 wurde vom ungarischen Parlament dieErinnerungsmedaille an den Ungarischen Volksaufstand gestiftet. Im Jahr 1991 wurde vom ungarischen Parlament die Verjährung der Verbrechen rund um den Volksaufstand aufgehoben, um noch lebende Personen dem Gericht zuführen zu können.
Dank der Ungarnflüchtlinge für die Aufnahme von Bischof Hasz in der Schweiz.
Denkmäler
Denkmal zu Ehren derPesti srácok, die als Jugendliche beimCorvin köz kämpften. ImCorvin Mozi-Kino im Hintergrund wurde am 23. Oktober 2006 – 50 Jahre danach – einFilm gezeigt, der die damalige Geschichte erzählte (siehe Plakat).
Gedenkstätte für die Opfer des ungarischen Volksaufstandes von 1956 an der Pfarrkirche Sankt Franziskus von Assisi in Budapest. Übersetzte Inschrift:UNSEREN NAMENLOSEN HELDEN DES UNABHÄNGIGKEITSKRIEGES UND DER REVOLUTION VON 1956 UND ZUM GEDENKEN AN DIE UNSCHULDIGEN OPFER.
Gedenkstein mit Flamme vor dem Parlament in Budapest.
Das Mahnmal bei derBrücke von Andau auf ungarischer Seite befindet sich in einem desolaten Zustand.
J. G. Farkas (Hrsg.):Die ungarische Revolution 1956. Rundfunk-Dokumente unter besonderer Berücksichtigung der studentischen Bewegung. Selbstverlag, München 1957.
Johanna GranvilleImre Nagy aka “Volodya” – A Dent in the Martyr’s Halo? (auch bekannt als „Volodya“). In:Cold War International History Project Bulletin. no. 5 (Woodrow Wilson Center for International Scholars, Washington, DC), Spring 1995, S. 28, 34–37.
András B. Hegedüs,Manfred Wilke (Hrsg.):Satelliten nach Stalins Tod. Der „Neue Kurs“ – 17. Juni 1953 in der DDR – Ungarische Revolution 1956. Oldenbourg Akademieverlag, 2000,ISBN 3-05-003541-2.
Agnes Heller, Ferenc Fehér:Hungary 1956 Revisited: The Message of a Revolution – a Quarter of a Century After. Allen and Unwin, London 1983.
György Litván, János M. Bak (Hrsg.):Die Ungarische Revolution 1956. Reform – Aufstand – Vergeltung. Passagen, Wien 1994,ISBN 3-85165-123-5.
Hannes Lachmann:Die "Ungarische Revolution" und der "Prager Frühling". Eine Verflechtungsgeschichte zweier Reformbewegungen zwischen 1956 und 1968. Essen 2018.
Paul Lendvai:Der Ungarnaufstand 1956 – eine Revolution und ihre Folgen. Bertelsmann, München 2006,ISBN 3-570-00579-8.
Paul Lendvai:Herbst der Freiheit. In:Die Zeit. Nr. 40/06. „Mutig erheben sich die Ungarn 1956 gegen die stalinistische Diktatur. Doch Moskau schlägt erbarmungslos zurück – und der Westen schaut zu.“
Ibolya Murber (Hrsg.):Die Ungarische Revolution und Österreich 1956. Czernin, Wien 2006.
János M. Rainer:Imre Nagy. Vom Parteisoldaten zum Märtyrer des ungarischen Volksaufstandes. Eine politische Biographie 1896–1958. Paderborn, Schöningh 2006.
Tamara Scheer,Wolfgang Etschmann,Erwin A. Schmidl:An der Grenze. Der erste Einrückungstermin des Bundesheeres und der Einsatz während der Ungarnkrise 1956. Eine Publikation der Landesverteidigungsakademie Wien und des Heeresgeschichtlichen Museums, Vehling, Graz 2006,ISBN 978-3-85333-129-3.
↑So auf Seite 343 der AutobiographieGeboren 1900 des DramatikersJulius Hay, deutsche Taschenbuchausgabe München 1980. Hay war führend am Aufstand beteiligt, den er ausführlich (ab Seite 321 bis Seite 400) schildert. Mit seinem ArtikelWarum mag ich den Genossen Kucsera nicht? (erschienen am 6. Oktober 1956 in derIrodalmi Ujság) verfasste Hay seinerzeit ein wegbahnendes Dokument der revolutionären Bewegung. Am 23. Oktober suchte er mit einer Delegation des Schriftstellerverbandes das Parteihaus derungarischen KP (MDK) auf. Gerő lehnte es ab, den Demonstrationen den Segen der zu geben. Er versprach ihnen aber (so Hay), nicht schießen zu lassen. Das habe er mit einem Händeschütteln bekräftigt, das Hay „männlich“ und „beruhigend“ vorkam. Hay täuschte sich.