Tschornobyl liegt seitdem innerhalb der 30-km-Sperrzone, jedoch außerhalb der inneren 10-km-Sperrzone, sodass später viele Gebäude in der Stadt renoviert wurden, um als Unterkünfte für die Arbeiter und Ingenieure des ehemaligen Kraftwerkparks Prypjat, Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleute zu dienen. In der Stadt, die sich, im Gegensatz zum benachbartenPrypjat, in einem guten Zustand befindet, gibt es auch ein Hotel. Im Umland und im Stadtgebiet von Tschornobyl, das für eine dauerhafte Besiedlung nicht freigegeben ist, leben heute illegal, jedoch von den Behörden toleriert,[2] rund 700 (von einst 14.000)Personen (Stand 2017), die entweder nach der Katastrophe die Region nicht verließen oder später in ihre Dörfer zurückkehrten.
Die UmweltorganisationBlacksmith Institute zählte in ihrer 2006, 2007 und 2013 veröffentlichten Liste Tschornobyl jeweils zu den zehn Orten mit der größten Umweltverschmutzung weltweit.[3]
Der NameTschornobyl oderTschornobylnyk (Чорнобиль, Чорнобильник) ist eine ukrainische Bezeichnung der PflanzenartBeifuß (Artemisia vulgaris).
Tschornobyl befindet sich imRajon Wyschhorod in der LandschaftPolesien 15 Kilometer südwestlich derbelarussischen Grenze und 130 km nördlich vom OblastzentrumKiew. Die Stadt liegt auf einer Höhe von140 m am rechten Ufer desPrypjat, einem Nebenfluss desDnepr. Wenig südlich der Stadt mündet derUsch in den Prypjat. VonIwankiw kommend führt dieRegionalstraßeP–56/TerritorialstraßeT–25–05 über den Sperrzonen-Kontrollpunkt beiDytjatky nach Tschornobyl und von hier aus in Richtung Osten auf einer kurzen Strecke alsP-35 durch Belarus, um nach Überquerung des Dneprs wieder alsP–56 nachTschernihiw zu führen.
DasGeographische Lexikon des Königreiches Polen von 1880 besagt, dass der Zeitpunkt der Gründung der Stadt nicht bekannt ist.[4]Grabungen im Stadtgebiet in den Jahren 2005 bis 2008 brachten eineKulturschicht aus dem späten 10. und frühen 11. Jahrhundert hervor.[5]In derLaurentianchronik (Лаврентьевский список) wurde 1127 die OrtschaftStreschiw (Стрежів) als die südlichste Stadt desFürstentums Polozk erwähnt, von der Historiker glauben, dass sie später in Tschornobyl umbenannt wurde. Die erste schriftliche Erwähnung Tschornobyls im Jahr 1193 stammt aus derHypatiuschronik.[6]
Die imFürstentum Kiew gelegene Ortschaft wurde 1362 vomGroßfürstentum Litauen erobert. 1552 besaß die Siedlung 196 Häuser und 1372 Einwohner. Es entwickelten sich Handwerksbetriebe wieSchmieden undBöttcherbetriebe. Nahe Tschornobyl wurdeSumpferz gewonnen, das zu Eisen verhüttet wurde. Nach derLubliner Union von 1569 zwischen Litauen und demKönigreich Polen fiel Tschornobyl unter die polnische Krone.[7] In den Jahren 1747 und 1751 wurde die Stadt von denHajdamaken erobert.[8] Zur Verteidigung gegen die Hajdamaken errichtete der damalige Besitzer der StadtJan Mikołaj Chodkiewicz eine Burg mit einer Besatzung von 700 Soldaten und 12 Kanonen.[7] Nach derzweiten polnischen Teilung 1793 wurde Tschornobyl zusammen mit derrechtsufrigen Ukraine demRussischen Kaiserreich einverleibt und lag dort imUjesdRadomyschl desGouvernements Kiew.[8] In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs Handwerk und Handel in Tschornobyl rasch an. Es gab Werkstätten von Schneidern, Schuhmachern undKürschnern. In der Stadt wurden großeMessen veranstaltet und Handelsware wie Holz und Teer unter anderem nachKiew undKrementschuk exportiert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden kleine Unternehmen, darunter eine Leder- und zwei Kerzenfabriken.[7]
Nach dem Ende desRussischen Bürgerkrieges, während dessen Tschornobyl sehr stark zerstört wurde[7], gehörte die Ortschaft zurUkrainischen SSR innerhalb derSowjetunion. Tschornobyl war seit 1923 Hauptort des gleichnamigenRajons mit einer Fläche von etwa 2.000 km² und 44.000 Einwohnern (1984).[9] 1941 wurde ihr der Status einer Stadt zuerkannt[10]. Während desDeutsch-Sowjetischen Kriegs war die Stadt zwischen dem 25. August 1941 und dem 16. November 1943 von Truppen derWehrmacht besetzt.[8] Nach dem Krieg wuchs sie bis 1979 auf 12.458 Einwohner an.[11]
Im nahe gelegenenKernkraftwerk ereignete sich am 26. April 1986 dieschwerste nukleare Havarie in der Geschichte der Nutzung derKernenergie, was zur Evakuierung der gesamten Bevölkerung der Stadt und des zugehörigen Rajons führte. Letzterer wurde Ende 1988 aufgelöst und dem Rajon Iwankiw zugeschlagen.[12] Seit demZerfall der Sowjetunion 1991 gehört Tschornobyl zur unabhängigenUkraine.
Im Jahr 2020 kam es in den verstrahlten Wäldern rund um Tschornobyl, die nach 1986 sich selbst überlassen wurden, zu umfassendenWaldbränden.[13]
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 nahmen russische Truppen am Nachmittag desselben Tages das AKW Tschernobyl und das umliegende Sperrgebiet ein. Ab dem 31. März zogen sich die russischen Truppen aus dem Gebiet zurück.[15]
Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts lebten Juden in Tschornobyl, die bis zum 19. Jahrhundert zur größten ethnischen Gruppe der Stadt (1897 betrug der Anteil der jüdischen Bürger 60 % der Bevölkerung) anwuchsen. Aufgrund derPogrome von 1905 und 1919 und der Migration sank der Anteil der jüdischen Bevölkerung bis 1926 auf 40 %. Vom späten 18. Jahrhundert bis 1919 war Tschornobyl der Sitz der von RabbiNachum von Tschornobyl (1730–1787) begründetenchassidischen Twersky-Dynastie und ein Zentrum des Chassidismus. Die Gemeinde wurde 1941 von den deutschen Besatzern zerstört.[8]
In der Nähe der Stadt entstand am Prypjatufer seit 1971 das erste Kernkraftwerk der Ukraine. Der erste Block wurde 1977 mit einer Leistung von 1.000Megawatt in Betrieb genommen; im Jahr 1983 arbeiteten vier Blöcke. Das gesamte Kraftwerk erzeugte zu dieser Zeit 4000 Megawatt und war für den Ausbau bis zu 6000 Megawatt geplant. Auch nach demSuper-GAU (INES: 7[18]) von 1986 arbeiteten die verbleibenden drei Reaktoren bis zur Abschaltung des letzten Blocks im Jahre 2000 weiter.
Tschornobyl beherbergte vier allgemeinbildende Mittelschulen, eine medizinische sowie eine landwirtschaftstechnische Fachschule und eine Musikschule. Ein Krankenhaus und einePoliklinik sowie ein Kino, ein Schwimmbad und eine Bibliothek waren ebenfalls vorhanden.
Ortseingang von Tschornobyl
Museum der Gedenkstätte „Зірка полин“ (Sirka polyn) 2013
Kirowstraße 2009
Verwaltungsgebäude und Arbeiterkantine im Stadtzentrum 2013
Gebiet um Tschornobyl. Aufgenommen 1997 von der russischen RaumstationMir
↑Häuserkampf in Geisterstadt: Ukrainisches Militär übt in Tschernobyl. In:Der Spiegel. 5. Februar 2022,ISSN2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 5. Februar 2022]).