Steven Pinkers frühe Arbeiten behandelten visuelle Kognition undPsycholinguistik; seine experimentellen Studien dazu betreffenmentale Vorstellung, Formerkennung, visuelle Aufmerksamkeit,Sprachentwicklung von Kindern, reguläre und irreguläre Phänomene der Sprache, die neuronale Grundlage von Wörtern und Grammatik, außerdem die Psychologie vonEuphemismen undAnspielungen.
Er veröffentlichte zwei Bücher, in denen er eine allgemeine Theorie desSpracherwerbs vorschlägt und sie auf das Lernen von Verben durch Kinder anwendet. In seinen populärwissenschaftlichen Schriften vertritt er die Ansicht, dass Sprache ein Instinkt oder eine biologischeAdaption sei, die durch dienatürliche Selektion geformt wurde.
Pinker stammt aus einerjüdischen Mittelschicht-Familie im englischsprachigen Teil vonMontreal,Kanada. Seine Eltern waren Roslyn und Harry Pinker.[1] Er absolvierte das Dawson-College 1971. Anschließend studierte erexperimentelle Psychologie an derMcGill-Universität, schloss mit einemBachelor of Arts ab und ging 1976 nachCambridge (Massachusetts), wo er 1979 seinenPhD (Doctor of philosophy) im Fach Experimentalpsychologie von der Harvard-Universität erhielt. Nach einem einjährigen Forschungsaufenthalt amMIT wurde er Assistenzprofessor inStanford,Kalifornien (1981/82). Von 1982 bis 2003 war er Professor im Fachbereich Hirn- und Kognitionswissenschaften des MIT und kehrte danach nach Harvard zurück. Dort erhielt er die Johnstone-Family-Professur im Fachbereich Psychologie;[2][3] von 2008 bis 2013 trug er ebenfalls den Titel Harvard-College-Professor zur Anerkennung seines Einsatzes in der Lehre. 1995/96 verbrachte er einSabbatical an derUniversität von Kalifornien in Santa Barbara.[4]
Pinker wurde 2004 vomTime-Magazin als einer der 100 weltweit einflussreichsten Wissenschaftler und Denker bezeichnet;[5] außerdem vonProspect undForeign Policy 2005 bzw. 2006 in deren Listen nach Umfragen der 100 wichtigsten öffentlichen Intellektuellen aufgenommen.[6][7]
Im Januar 2005 verteidigte PinkerLawrence Summers, den Präsidenten der Harvard-Universität, dessen Kommentare zurGeschlechterkluft in Mathematik und Naturwissenschaften mehrere Mitglieder der Fakultät verärgert hatten. Pinker stellte fest, dass Summers Anmerkungen, richtig verstanden, Hypothesen zu überlappenden statistischen Verteilungen männlicher und weiblicher Talente und Geschmäcker waren; und dass in einer Universität solche Hypothesen Gegenstand von empirischen Tests und nicht vonGlaubenssätzen und Empörung sein sollten.[11]
Pinker war für die Redaktionen von Fachzeitschriften wieCognition,Daedalus undPLoS ONE im Beirat von Einrichtungen für die naturwissenschaftliche Forschung (z. B. dasAllen Institute for Brain Science), für die Freie Rede (z. B. dieFoundation for Individual Rights in Education), für die Popularisierung der Naturwissenschaften (z. B. dasWorld Science Festival und dasCommittee for Skeptical Inquiry), für den Frieden (z. B. für die Stiftung Friedensforschung) und densäkularen Humanismus tätig (z. B.Freedom from Religion Foundation and theSecular Coalition for America). Seit 2008 hat er den Vorsitz für den Nutzungsausschuss desAmerican Heritage Dictionary inne und schrieb den Text für die Nutzung der fünften Ausgabe des Wörterbuches, das 2011 veröffentlicht wurde. Seit 2019 sitzt er im Beirat der deutschen KleinparteiPartei der Humanisten.[12]
Sein Vater, ein Rechtsanwalt, war ursprünglich als Vertreter tätig, während seine Mutter zunächst Hausfrau war und dann als Beratungslehrerin undKonrektorin einer Schule arbeitete. Er hat zwei jüngere Geschwister. Sein Bruder ist ein politischer Analyst für diekanadische Bundesregierung. Seine Schwester,Susan Pinker ist Psychologin und populärwissenschaftliche Schriftstellerin (Das Geschlechterparadox).[13][14]
Pinker war von 1980 bis 1992 mit der Psychologin Nancy Etcoff und von 1995 bis 2006 mit der Psychologin Ilavenil Subbiah verheiratet. Seit 2007 ist er mit Rebecca Goldstein verheiratet. Er hat zwei Stieftöchter: die Schriftstellerin Yael Goldstein Love und die Dichterin Danielle Blau.[15]
Zu seinem religiösen Bekenntnis meinte Pinker: „Ich war nie religiös im theologischen Sinn […]. Ich bin nie meiner Bekehrung zum Atheismus im Alter von 13 entwachsen, aber zu verschiedenen Zeiten war ich ein ernsthaftersäkularer Jude.“[14] Für den Guardian stellte Pinker seine Liste der kulturellen Höhepunkte zusammen, zu diesen gehören für ihn die Fotografie (insbesondere dieAstrofotografie), dieIlias von Homer und die wissenschaftlichen Arbeiten vonDavid Deutsch und vonMax Roser.[16]
Als Teenager hielt er sich für einenAnarchisten, bis er Zeuge der Unruhen des Murray-Hill-Aufruhrs (Polizeistreik 1969 in Montreal) wurde.[17]
Pinker nennt sich selbst einen Anhänger desIndividualfeminismus, den er inDas unbeschriebene Blatt als „eine moralische Lehre über die Gleichbehandlung definiert, die keine Festlegungen macht in Bezug auf offene empirische Fragen in der Psychologie oder Biologie“.[18]
Er hat das Ergebnis eines Tests zu seiner politischen Orientierung veröffentlicht, das ihn als weder links noch rechts, mehr liberal als autoritär charakterisierte.[19]
Pinkers Forschungsinteressen sind alle Aspekte vonSprache undGeist, diementale Vorstellung und die Sprache. Pinkers Arbeit zur mentalen Vorstellung, begonnen in Zusammenarbeit mit seinem DoktorvaterStephen Kosslyn, zeigte, dass geistige Bilder Szenen und Objekte repräsentieren, wie sie aus einem bestimmten Blickwinkel (eher als die Erfassung ihrer intrinsischen dreidimensionalen Struktur) erscheinen. Damit entsprechen sie der Theorie der „zwei-und-ein-halb-dimensionale Skizzen“ des NeurowissenschaftlersDavid Marr.[22] Im Gegensatz zu Marrs Theorie zeigte Pinker, dass die bildliche Erkennung gesichtspunktunabhängige Repräsentationen einsetzt, dass diese Ebene der Darstellung im Rahmen der visuellen Aufmerksamkeit genutzt wird, außerdem zur Objekterkennung (zumindest für asymmetrische Formen).
Er schrieb ein Buch über denSpracherwerb von Kindern und ein weiteres über den Gebrauch vonVerben. Er beschäftigte sich zwei Jahrzehnte lang mit dem Unterschied zwischenintransitiven undtransitiven Verben. Zudem untersuchte er dieSprachentwicklung bei Zwillingen und Sprachprozesse mittels sogenanntenNeuroimagings. Bekannt wurde er durch seine umstrittene Theorie vom angeborenen Sprachinstinkt, vor allem im BuchDer Sprachinstinkt. Später beschäftigte Pinker sich mitErinnerung undAnspielungen.
In der Psycholinguistik wurde Pinker früh bekannt für die Förderung der Computational-Lerntheorie als einer Möglichkeit, denSpracherwerb bei Kindern zu verstehen. Er schrieb ein Übersichts-Tutorial zu diesem Forschungsfeld, gefolgt von zwei Büchern, die seine eigene Theorie des Spracherwerbs fortführten, und verfasste eine Reihe von Experimentalanweisungen zum Erwerb von Passiv-, Dativ- und Lokativkonstruktionen bei Kindern. Mit anderen Wissenschaftlern entwickelte er auch ein Modell desmentalen Lexikons, das zwischen der Anwendung allgemeiner Regeln und individueller Wortspeicherung unterscheidet, und das auch dieMorphologie der deutschen Sprache diskutiert.[23]
Im Jahr 1989 veröffentlichten Pinker undAlan Prince eine einflussreiche Kritik zumkonnektionistischen Modell des Erwerbs derVergangenheitsform (ein Lehrbuchproblem beim Spracherwerb), gefolgt von einer Reihe von Studien, wie Menschen die Vergangenheitsform erwerben und nutzen. Dies beinhaltete eine Monographie über Regularisierung vonunregelmäßigen Verben bei Kindern, und das populärwissenschaftliche BuchWörter und Regeln (1999), in dem er argumentiert, dass regelmäßige und unregelmäßige Verbphänomene Produkte von Rechentätigkeit bzw. Speicheraufruf sind und dass die Sprache als eine Wechselwirkung zwischen den beiden zu verstehen sei.
Pinker ist ein Vertreter desNativismus, desComputationalismus und des Prinzips der geistigenModularität. Seine grundlegenden Thesen sind in mehreren Büchern wie etwaWie das Denken im Kopf entsteht,Das unbeschriebene Blatt,Der Sprachinstinkt undWörter und Regeln dargestellt.
Der LinguistGeoffrey Sampson kritisiert Pinkers Nativismus, den dieser als einzige Alternative zumsozialkonstruktivistischen Paradigma sehe, das nach seiner Auffassung das intellektuelle Leben der westlichen Welt seit den 1920er Jahren dominiert habe und insbesondere von Forschern wieB. F. Skinner,John B. Watson undMargaret Mead vertreten werde. Sampson bezeichnet Pinkers Behauptungen über die Dominanz dieses Paradigmas als komplett unhaltbar und sieht Pinkers Nativismus als extremen Gegenentwurf zu einem Modell, das es so nie gegeben habe. So gingen Bildungsreformen der 1960er und 1970er Jahre von angeborenen Begabungen von Kindern anstatt einerTabula rasa aus, was der behaupteten Dominanz des sozialkonstruktivistischen Modells seit den 1920ern widerspreche. Außerdem könne man laut Sampson nicht Skinner, Watson und Mead für den Ton des intellektuellen Lebens seit den 1920er Jahren verantwortlich machen.[25]John Dupré bemängelt, dass Pinker ein überzeichnetes Bild eines extremen Environmentalismus entwerfe und diesemStrohmann sein eigenes Forschungsprogramm entgegenstelle. Laut Dupré, der einen interaktionistischen Ansatz und die Berücksichtigung von biologischen, kulturellen und Umweltfaktoren befürwortet, entwirft Pinker eine grob vereinfachte Zweiteilung zwischen Befürwortern der Tabula rasa und Befürwortern des biologischenDeterminismus.[26]
Der britische KulturhistorikerRichard Webster hielt hingegen die Argumentation vonDer Sprachinstinkt für schlüssig dahingehend, dass das menschliche Sprachvermögen Teil der evolutionär entstandenen genetischen Ausstattung des Menschen sei. Pinkers Angriff gegen das Standardmodell des kulturellen Determinismus sei geglückt. Webster akzeptiert auch Pinkers Kritik an den Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts, die die genetische Beeinflussung der menschlichen Natur aus weltanschaulichen Gründen geleugnet hätten.[27]
DerPsycholinguistJeffrey Elman präsentiert verschiedene Forschungsergebnisse zurneuronalen Plastizität als Gegenargument zu der von Pinker vertretenen nativistischen Ansicht, dass das Gehirn überwiegend ausangeborenen, spezialisierten kognitiven Modulen bestünde.[28] DerAnthropologeMelvin Konner hingegen meint, Pinker schließe korrekterweise, dass das menschliche Gehirn kein allgemeiner informationsverarbeitenderProzessor, kein symmetrisch wiederholenderIterator oder eine umfassende Lernmaschine sein könne. Die Mechanismen derEvolutionsbiologie lassen vielmehr anwendungsspezifische, funktional beschränkende neurale Organe und Schaltungen erwarten. Es sei zu erwarten, dass die Natur spezielle Module gestaltet habe, die es zum Beispiel ermöglichen, Betrug in Beziehungen zu erfassen, Wut gegen sexuelle Rivalen hervorzurufen, einen tödlichen Biss präzise in den Hals der Beute auszuführen, einen Satz grammatisch zu verstehen und es einem Säugling erleichtern, die milchgefüllte Brust zu finden.[29]
Jaak Panksepp kritisiert die vonEvolutionspsychologen und von Pinker vertretene Sicht, dass die Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns wie die Datenverarbeitung von Computern funktioniere.[30] In seinem BuchHow the mind works stellt Pinker seine komputationale Theorie des Verstandes anhand eines Beispiels vor. Er beschreibt ein Telefongespräch, bei dem Informationen vom Sprecher zum Empfänger übertragen werden und gleich bleiben, obwohl sie zwischenzeitlich verschiedene physische Formen annehmen – z. B. Druckschwankungen, elektrische Signale in den Telefonleitungen und neuronale Aktivität im Gehirn des Empfängers. Laut Pinker könne man ebenso gut ein Programm auf einem Computer ablaufen lassen, der aus Elektronenröhren und elektromagnetischen Schaltern aufgebaut ist.[31][30] Panksepp kritisiert diese Sichtweise als unzulänglich. Pinker ignoriere die Tatsache, dass das menschliche Gehirn in dem Beispiel aus SinneseindrückenBedeutung hergestellt hat und dass es aus ankommenden Abbildungen der Umwelt Wissen selbst synthetisiert.[30] In dem BuchThe mind doesn't work that way – eine direkte Replik auf PinkersHow the mind works – weistJerry Fodor darauf hin, dass Forschungsergebnisse deutlich gezeigt hätten, dass der Mensch höhere kognitive Fähigkeiten besitze, die sich durch komputationale Modelle nicht erklären lassen. Fodor, der als Mitbegründer des Feldes des Komputationalismus gilt, äußert Verwunderung über Pinkers Glauben in die Erklärungskraft komputationaler Theorien.[32]
Wegen unzureichender Daten, auf die Pinker viele Aussagen inGewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit stützt, wurde er kritisiert.[33] In diesem Buch, sowie inAufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung (2018), und in Vorträgen verbreitete Pinker wissenschaftliche Erkenntnisse um einenKriminalitäts- beziehungsweise Gewaltrückgang in der Öffentlichkeit. Die polnische LinguistinAnna Wierzbicka kritisiert Pinkers BuchGewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit mit dem Einwand, er setze unreflektiert voraus, dass der Bedeutungsgehalt des englischen Wortes „violence“ derselbe sei wie der Bedeutungsgehalt der in anderen Sprachen für „Gewalt“ gebrauchten Wörter. Sie führt Beispiele dafür an, dass die US-amerikanische Vorstellung von Gewalt keineswegs universell sei.[34]
Pinkers populärwissenschaftliche Arbeiten erfahren in den internationalen und deutschsprachigen Medien erhebliche Aufmerksamkeit. So bezeichnet ihn etwa die britischeBBC als „wissenschaftlichen Superstar“[35], undDer Spiegel stellt Pinker als „weltbekannte[n] Evolutionspsychologe[n]“ vor, der „durch seine Forschungen über Sprache, Bewusstsein und Geist hohes Ansehen erworben“ habe.[36]
Pinkers Bücher sind häufigBestseller imSachbuchsegment und werden auch weit jenseits wissenschaftlicher Debatten rezipiert, wie etwa seine regelmäßigen Auftritte in der populären FernsehsendungColbert Report illustrieren.[37][38] Zugleich finden sich in der öffentlichen Wahrnehmung kritische Stimmen, die akademische Vorwürfe von vereinfachendemReduktionismus undSzientismus rezipieren. So beschreibt etwa derNew-York-Times-Kolumnist Ross Douthat Pinkers Positionen als „vermessen selbstsicher, intellektuell vereinfachend und desinteressiert an den Möglichkeiten rationalen Widerspruchs zwischen Menschen.“[39]
A neural dissociation within language: Evidence that the mental dictionary is part of declarative memory, and that grammatical rules are processed by the procedural system. In:Journal of Cognitive Neuroscience. 9. Jahrgang, 1997,S.289–299.
S. Pinker:Language as an adaptation to the cognitive niche. In: M. Christiansen, S. Kirby (Hrsg.):Language evolution: States of the Art. Oxford University Press, New York.
The nature of the language faculty and its implications for evolution of language (Reply to Fitch, Hauser, and Chomsky). In:Cognition. 97. Jahrgang,Nr.2, 2005,S.211–225,doi:10.1016/j.cognition.2005.04.006.
↑„As a young teenager in proudly peaceable Canada during the romantic 1960s, I was a true believer in Bakunin's anarchism. I laughed off my parents' argument that if the government ever laid down its arms all hell would break loose. Our competing predictions were put to the test at 8:00 a.m. on October 17, 1969, when the Montreal police went on strike. […] This decisive empirical test left my politics in tatters (and offered a foretaste of life as a scientist).“ In: Steven Pinker:The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature. Viking, 2002,ISBN 0-670-03151-8.
↑Steven Pinker:The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature. Viking, 2002, S. 341.
↑Gary F. Marcus, Ursula Brinkmann, Harald Clahsen, Richard Wiese, Steven Pinker:German Inflection: The Exception That Proves the Rule. In:Cognitive Psychology.Band29,Nr.3, 1995,S.189–256,doi:10.1006/cogp.1995.1015 (englisch).
↑Manuel Eisner:Long-Term Historical Trends in Violent Crime. The University of Chicago, 2003 (Download [PDF]).
↑Geoffrey Sampson:The ‘Language Instinct’ Debate. Revised Edition. Continuum, London 2009,ISBN 978-0-8264-7384-4, S. 134 f.
↑Jerry A. Fodor:The Mind Doesn't Work that Way: The Scope and Limits of Computational Psychology.MIT Press, Cambridge (Mass.) 2000,ISBN 978-0-262-06212-1, S. 2 ff.
↑Anna Wierzbicka:Imprisoned in English. The hazards of English as a default language. Oxford University Press, Oxford / New York 2013,ISBN 978-0-19-932150-6, S. 55–57.