Der „Menschensohn“ (hebräischben adam בן–אדם,aramäischbar enascha oderbar nascha[1]) ist ebenfalls ein Ausdruck aus derhebräischen Bibel. ImNeuen Testament (NT) erscheint dergriechische Ausdruck ὁ υἱὸς τοὺ ἀνθρώπου (ho hyios tu anthropu, „der Sohn des Menschen“) nur in Eigenaussagen desJesus von Nazaret, immer in der dritten Person, nie als Aussage über ihn oder andere.
Ein Herrscher wurde in der Gottkönigsideologie altorientalischer Großreiche seit etwa 2000 v. Chr. oft alsGottessohn bezeichnet. InAltägypten bezeichnete man denPharao als Sohn des GottesAmun. ImHellenismus wurdeAlexander der Große als „Sohn desZeus“ verehrt. Diesen Titel übernahmen dieSeleukiden.
DerTanach grenzt den Glauben derIsraeliten gegen denPolytheismus, seineGötterwelten und gegen die Vergötterung und Anbetung oder Anrufung von Menschen, Lebewesen und Gegenständen ab. Dies zeigen gerade die Stellen, die Einflüsse altorientalischerMythologie spiegeln: So zeugen dieGottessöhne inGen 6,2 EU mit langem Leben ausgezeichnete NachkommenAdams, also Menschen, keine Götter.
Hos 11,1 EU nennt das ganze erwählte Volk IsraelSohn Gottes. In den Königspsalmen wird ein inthronisierter Herrscher Israels öfter so genannt (Ps 2,7 EU;Ps 89,28 EU). Die umgebenden Motive zeigen den Einfluss der altorientalischen Hofsprache. Dabei fehlt jedoch die Vorstellung, der König sei physisch von Gott „gezeugt“, göttlich oder einHalbgott; der Titel drückt hier vielmehr eine Personenwahl nach Analogie einer Adoption aus. Der König wird damit zum Führer des ganzen Gottesvolks Israel beauftragt und rechtlich zur Einhaltung von Gottes Willen verpflichtet.
In der Dynastiezusage an KönigDavid, „Dein Haus und dein Königtum sollen durch mich auf ewig bestehen bleiben“ (2 Sam 7,16 EU), wird ihm angekündigt, Gott werde Davids leiblichen Sohn als den seinen ansehen: „Ich will für ihn Vater sein und er wird für mich Sohn sein“ (2 Sam 7,14 EU). Für die Annahme, der Sohn-Gottes-Titel sei von dort aus auf denMessias als Heilsbringer der Endzeit übertragen worden, gibt es im Tanach keinen Beleg. Ein späteres Zitat dieser Zusage (1 Chr 17 EU) nennt den Davidnachfolger vielmehr „Knecht“.[2]
Einige Fragmente unter denSchriftrollen vom Toten Meer (entstanden etwa 200–100 v. Chr.) kombinieren den Messiastitel einmal mit den TitelnSohn Gottes undSohn des Höchsten (4Q 246). Dagegen fehlt der Sohn-Gottes-Titel in allen jüdischen Schriften, die vom Messias reden, zwischen 100 vor und 100 nach Chr.[3]
DasMarkusevangelium stellt den TitelSohn Gottes von Anfang an in den Vordergrund (Mk 1,1 EU).[5] Bei seinerTaufe (1,11EU) und seiner vorösterlichenVerklärung (9,7EU) habe Gott Jesus vom Himmel her zu seinem geliebten Sohn erklärt. Auch die Dämonen, die Jesusausgetrieben habe, hätten ihn als Sohn Gottes erkannt und angeredet (3,11EU; 5,7EU). Die apokalyptischeEndzeitrede ordnetden Sohn und seine Aufgabe in der Welt betontdem Vater unter (13,32EU). Angesichts seines Sterbens amKreuz habe der römische Offizier, der die Hinrichtung beaufsichtigte, als Erster bekannt (15,39EU): „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ Darum sollen dieNachfolger Jesu den auferstandenen Kyrios verkünden und in seinem Namen Dämonen austreiben (16,15–19EU). Dieses Verständnis des Titels als Bezeichnung des von Gott zur endgültigen Rettung der Welt erwählten Heilsbringers greifen andere NT-Schriften auf (Joh 1,14 EU,Hebr 2,9 EU,Phil 2,7 EU u. ö.).
InOffb 2,18 EU stellt sich der erhöhte Christus der Gemeinde vonThyatira als „Sohn Gottes“ vor. Nur an dieser Stelle kommt der Titel in derJohannesoffenbarung vor. Deren Verfasser stellt Christus als den wahren Sohn Gottes gegen die sich ebenso nennenden römischen Kaiser.[6] Zudem bereitet der Titel das Zitat des Sohn-Gottes-Psalms am Ende desselben Sendschreibens vor (Ps 2,8f. in Offb 2,27). Dieses stellt den Christus treuen Nachfolgern in Thyatira eine Teilhabe an der Machtstellung des Sohnes Gottes in Aussicht.[7]
Dafür, dass der historische Jesus sich selbst als Sohn Gottes verstand, fehlen jedoch direkte Anhaltspunkte.[8] Zwar deuten die Rahmenhandlungen derWunderberichte diese Heiltaten als Zeichen seiner Sohnschaft; auch dieSündenvergebung undToraauslegung verweisen auf diese Vollmacht. Doch in Eigenaussagen Jesu verwendet dieser vor allem den Titel desMenschensohns, und nur manchmal in Gesprächen bestätigend den Titel Gottes Sohn (Mk 14,61–62 EU,Joh 10,36 EU).
Auch der Titel „Sohn Davids“ wird im Christentum auf Jesus selbst bezogen. BeimEinzug Jesu in Jerusalem jubelt die Menge (Mt 21,9 EU): „Hosanna dem Sohne Davids! Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Jesu Stammbaum inMt 1,1-16 EU sowie die Weihnachtsgeschichte inLk 2,4 EU sollen seinen rechtmäßigen Anspruch auf den Thron untermauern, indem sie Jesus als Nachkomme Davids darstellen.
Die KirchenväterClemens von Alexandrien undOrigenes (um und nach 200 n. Chr.) lehrten, dass derLogos, der in Jesus verkörpert sei, notwendig sei für Gott, um sich der physischen und der geistigen Welt zu offenbaren. Der Logos-Jesus sei ebenso ewig wie der Schöpfer.Arius im4. Jahrhundert meinte, der Logos-Jesus sei, wie Origenes es lehre, demVater (= Gott) untergeordnet, nicht vom Vater ewig gezeugt, kein richtiger Gottessohn, diese Bezeichnung sei ein Ehrenname und Jesus ein Adoptiv-Sohn Gottes (Arianismus).
Athanasius war im4. Jahrhundert ein entschiedener Gegner des Arius. Er lehrte, dass der Logos-Jesus als ewige Zeugung Gottes, des Vaters, nur aus dem Vater, dem Urprinzipemaniert sei:Christus … mit dem Zusatznamen Jesus, ist der menschgewordene Logos oder Sohn Gottes, die zweite Person derTrinität mit einer menschlichen Natur.[9] Der Sohn sei also ebenso dem Vaterwesensgleich (Homousie), nicht nur wesensähnlich (Homoiusie). Die Vorstellung der Homousie wurde imKonzil zu Nicäa 325 als Kirchenlehre festgelegt.
In Texten derMystik, insbesondere in ihrer rheinländischen Ausprägung, werden patristische Konzepte und Metaphern neu gedeutet. Die Gottessohnschaft sei nicht nur ein vergangenes Geschehen, sondern ein in derSeele zu realisierender Prozess. Besonders prägnant formulierten den Gedanken einer „Gottesgeburt in der Seele“Meister Eckhart[10] und die von ihm beeinflussten Autoren wieHeinrich Seuse,Johannes Tauler undNikolaus von Kues.[11]
Diverse Beiträge zur Begrifflichkeit von „Sohn Gottes“ in AT, NT, Doxologie usf., in: Concilium 18 (1982).
Martin Hengel:Studien zur Christologie, Kleine Schriften Bd. 4, hg. v. Claus-Jürgen Thornton, WUNT 201, Tübingen 2006, insb. Beitrag 4:Der Sohn Gottes, S. 74–145.
Klaus Koch:Der König als Sohn Gottes in Ägypten und Israel. In: Eckart Otto, Erich Zenger (Hgg.):„Mein Sohn bist du“ (Ps 2,7), Studien zu den Königspsalmen, Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2002, S. 1–32.
Peter Müller:Sohn und Sohn Gottes – Übergänge zwischen Metapher und Titel – Verbindungslinien zwischen Metaphorik und Titelchristologie am Beispiel des Sohnestitels. In: Jörg Frey (Hg.):Metaphorik und Christologie. Theologische Bibliothek Töpelmann 120, De Gruyter, Berlin u. a. 2003, S. 75–92.
Ulrich B. Müller:„Sohn Gottes“ – ein messianischer Hoheitstitel Jesu. In: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 87 (1996), S. 1–32.
↑Die Bedeutung derKomposition beider aramäischer Substantive,bar nasha heißt nicht wörtlich „Sohn des Menschen“, sondern allgemein „Mensch“.
↑Martin Hengel:Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte. Tübingen 1975, S. 71ff
↑Martin Karrer:Jesus Christus im Neuen Testament. Göttingen 1998, S. 191
↑Martin Karrer:Attribute und Benennungen Jesu, in:Jesus Christus im Neuen Testament. Göttingen 1998, S. 352f
↑Allerdings ist hier die Beifügung „Sohn Gottes“ nicht ganz sicher; sie fehlt imCodex Sinaiticus, und die 28. Auflage desNovum Testamentum Graece (Nestle-Aland) stellt sie in eckige Klammern.
↑Heinz Giesen:Die Offenbarung des Johannes, RNT, Regensburg 1997, S. 118
↑Akira Satake:Die Offenbarung des Johannes, KEK 16, Göttingen 2008, S. 169 u. 174f.
↑Hans Conzelmann, Andreas Lindemann:Arbeitsbuch zum Neuen Testament 12. Auflage, Mohr/Siebeck, UTB 52, S. 491
↑Joseph Pohle, in: Kirchliches Handlexikon, von Michael Buchberger, I, Sp. 927.
↑S. Ueda:Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit, Mohn, Gütersloh 1965 (Akzent auf Parallelen zu östlichen Vorstellungen),Kurt Flasch:Teufelssaat oder Philosophie der Gottessohnschaft. Meister Eckhart vor der Inquisition, in: Ders.: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Klostermann, Frankfurt am Main 2008, S. 211–226.
↑Vgl. etwaRudolf Haubst:Die Geistliche Geburt des Sohnes Gottes in den Herzen und das erlösende Todesleiden Jesu, in: Ders.: Streifzüge in die Cusanische Theologie, Aschendorff, Münster 1991.