Novemberverbrecher (auch: „Novemberlumpen“, „Anstifter der Novemberrevolte“) war einSchimpfwort undpolitischer Kampfbegriff vonrechtsextremen Parteien und Medien gegen Vertreter derNovemberrevolution von 1918 oder als solche angesehene demokratische Politiker derWeimarer Republik. DieNSDAP und dieDNVP verwendeten den Ausdruck seit 1920 in häufigenHetzkampagnen im Sinne derDolchstoßlegende und rechtfertigten damitFememorde. Der Begriff wurde zu einem festen Bestandteil derSprache des Nationalsozialismus.
Seit 1920 bekämpften Nationalisten das im April 1920 beschlosseneReichsgrundschulgesetz in einer bis 1933 andauernden Kampagne als „Werk der roten Novemberverbrecher“.[1]
DieNS-Propaganda erklärteAdolf Hitler nach 1933 zum Erfinder des Ausdrucks. NachPhilipp Bouhler („Kampf um Deutschland“, 1942) habe Hitler beimHitler-Ludendorff-Putsch am 8. November 1923 „die Regierung der Novemberverbrecher in Berlin“ für abgesetzt erklärt. NachWerner Rust, der 1943 die 29. Auflage des Buchs von Georg Büchmann „Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes“ (Erstausgabe 1866) als von ihm bearbeitete „Volksausgabe“ herausgab, beanspruchte Hitler in einem Leitartikel desVölkischen Beobachters vom 27. März 1923, er habe den Ausdruck geprägt.[2] Ob dies zutrifft, ist fraglich, da die NS-Propaganda ab 1933 ältere deutsche Wörterbücher und Ausgaben von Hitler-Reden tendenziös überarbeitete und manche Wortschöpfungen anderer im Sinne desFührerkults zum „geistigen Eigentum“ Hitlers erklärte.[3]
NachManfred Pechau („Nationalsozialismus und deutsche Sprache“, 1935) soll Hitler den Ausdruck erstmals am 18. September 1922 in einer Rede „Die Teuerung als Folge der Börsenrevolution“ verwendet haben. In dieser Rede ist der Begriff bei Hitler erstmals nachgewiesen.[4]
Seither gehörte „Novemberverbrecher“ zu den verbreiteten Schlagworten der antidemokratischenAgitation: gegen den provisorischenRat der Volksbeauftragten, dessen Abgesandte am 11. November 1918 denWaffenstillstand von Compiègne unterzeichnet hatten, gegen die Vertreter derWeimarer Koalition, die am 28. Juni 1919 denFriedensvertrag von Versailles (genannt „Schanddiktat“, „Schand-“ oder „Schmachfrieden“) unterzeichnet hatten, gegen die angebliche „Kriegsschuldlüge“ und dieReparationsauflagen dieses Vertrages, gegen angeblich den Siegermächten hörige „Erfüllungspolitiker“, die diese Auflagen bejaht und unterzeichnet hätten.
Das gesamte Wortfeld ergänzte die seit 1919 im ganzen nationalistischen Lager verbreitete Dolchstoßlegende, wonach die Kräfte der Linksparteien dem „im Felde unbesiegten“ deutschen Heer imErsten Weltkrieg „in den Rücken gefallen“ seien und so die Kriegsniederlage und deren Folgen verursacht hätten.Antisemitische Vertreter dieser Legende machtenJuden, die sie mit „Bolschewisten“ gleichsetzten, für die Kriegsniederlage und deren Folgen verantwortlich.[5]
Der Ausdruck „Novemberverbrecher“ stellte diese Vorgänge nach Analogie desKriegsrechts als „Verbrechen am deutschen Volk“ im Sinne vonHochverrat undLandesverrat dar und erklärte somit alle Befürworter der Revolution, Demokratie undWeimarer Verfassung ungeachtet ihrer Differenzen zu kriminellen „Volksfeinden“ oder „Volksverrätern“. Er wirkte zum Teil als akute Bedrohung der so Bezeichneten, zum Teil bereitete er spätere Gewaltmaßnahmen des NS-Regimes gegen sie vor.[6]
Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg war unvermeidbares Ergebnis vonEroberungszielen, verfehlter Militärstrategie und verfehlter Kriegführung (z. B. demU-Boot-Krieg) derObersten Heeresleitung (OHL). Diese orientierte sich seit 1917, innenpolitisch gestützt von den Annexionisten, auf einen illusionären „Siegfrieden“. Ihre Offensiven führten zur völligen wirtschaftlichen und militärischen Erschöpfung Deutschlands und bewirkten so die Niederlage, gefolgt von einem verdeckten Militärstreik, dann einer Revolution.[7]
Die hauptverantwortlichen Militärs wurden dabei und danach jedoch nicht entmachtet und nicht strafrechtlich verfolgt.Erich Ludendorff undPaul von Hindenburg, die Generäle der OHL, schufen und verbreiteten ab 1919 die Dolchstoßlegende. Die im Kontext der vieldiskutiertenKriegsschuldfrage verbreitete Kriegsunschuldslegende wurde auch von den meisten demokratischen Parteien und Regierungen der Weimarer Republik geteilt und aufrechterhalten. Vom „Schandfrieden von Versailles“ sprachen auch manche SPD-Politiker. DieVerschwörungstheorie einesJüdischen Bolschewismus vertraten etwa inMünchen zwischen 1920 und 1924 auch nationalistische Vereine wie derDeutsche Turner-Bund und katholische Bischöfe wieMichael Faulhaber.[8]
So fiel der Begriff „Novemberverbrecher“ auf einen fruchtbaren gesellschaftlichen Boden. Hetzkampagnen gegen so oder sinngemäß Bezeichnete rechtfertigten eine Mordserie an demokratischen Politikern wieKurt Eisner,Karl Gareis (beideUSPD),Matthias Erzberger (Zentrumspartei),Walter Rathenau (DDP) und anderen in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Täter waren vielfach ehemaligeReichswehr-Angehörige, die sich zuerst inFreikorps, später in illegalen Geheimbünden wie derOrganisation Consul oder in von Landesregierungen geduldeten„Vaterländischen Verbänden“ organisierten.[9] Konsens unter diesen Gruppen war das Ziel, die Weimarer Republik und ihre Regierungen durch gewaltsamePutschversuche zu stürzen.Terroranschläge und Morde an politischen Gegnern wurden in diesem Umfeld als politische Mittel geduldet oder unterstützt.
Hitler redete am 11. Januar 1923 unter der Parole „Nieder mit den Novemberverbrechern“ imZirkus Krone in München vor etwa 8000 Zuhörern zur französischenRuhrbesetzung vom selben Tag. Er erklärte damit dieSozialdemokraten und die mit ihnen koalierenden Regierungsparteien zu den eigentlichen Verursachern dieser Besetzung und somit zum innenpolitischen Hauptfeind. Das Ziel, diese Verbrecher zu entmachten, unterscheide die NSDAP von allen übrigen deutschen Parteien.[10] Hitler ließ das Werbeplakat der NSDAP zu dieser Rede 1928 im Anhang zur dritten Auflage seines BuchesMein Kampf abdrucken.
Nachdem der neueReichskanzlerGustav Stresemann (DVP), der selbst die deutsche Kriegsschuld bestritt und eine gemäßigte Form der Dolchstoßlegende vertrat, den passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung hatte einstellen lassen, griffen NSDAP und DNVP ihn als „Erfüllungsgehilfen der Novemberverbrecher“ an.[11] Diese Polemik wiederholten sie auch gegen Politiker, die mit den Siegermächten Milderungen der Reparationsauflagen aushandeln wollten, 1924 denDawesplan und 1929 denYoungplan befürworteten.[12]Pazifisten und Realpolitiker, die für Völkerversöhnung und Abrüstung eintraten, galten auch unter Offizieren der Reichswehr und im deutschenAdel weithin als „Erfüllungsgehilfen der Novemberverbrecher“.[13]
ImUlmer Reichswehrprozess kündigte Hitler 1930 unmissverständlich dieTodesstrafe („Köpfe rollen“) für „Novemberverbrecher“ im Falle seiner „Machtergreifung“ an.Philipp Scheidemann (SPD), der die Unterzeichnung des Versailler Vertrages zuerst verweigert hatte, versuchte sich 1930 mit einer Verteidigungsschrift gegen diese Hetzpropaganda zu wehren.[14]
Hitler hatte schon inMein Kampf 1925 „hebräische Volksverderber“ und Novemberrevolutionäre gleichgesetzt undMassenmord gegen sie indirekt befürwortet. Der Herausgeber der konservativ-liberalen ZeitungDie Christliche Welt,Martin Rade, warnte 1932: Falls Hitler Reichskanzler werde, dann werde er seine inMein Kampf dargelegten Ziele in die Tat umsetzen. Denn für ihn gebe es nur einemessianische Pflicht zur Rettung Deutschlands und der Menschheit: „Ausrottung der Juden und der Novemberverbrecher.“[15]
Ab Februar 1933 inhaftierte, misshandelte und ermordete das NS-Regime zehntausende Mitglieder derKPD und SPD als „Novemberverbrecher“ in neu errichtetenKonzentrationslagern.[16] Im April 1933 widmeten die „Nationalsozialistischen Monatshefte“ diesen Zielgruppen ein Sonderheft unter dem Titel „Die Novemberverbrecher“, um so weitere Morde und Parteiverbote vorzubereiten. Angeprangert wurdenEmil Barth,Hellmut von Gerlach,Rudolf Hilferding,Kurt Tucholsky,Otto Wels undJoseph Wirth.[17] Die so Bezeichneten waren in akuter Lebensgefahr und gingen, wenn möglich, bis zum Jahresende ins Exil.[18]
Nach ersten Niederlagen derWehrmacht imKrieg gegen die Sowjetunion, der alsVernichtungskrieg gegen den „Jüdischen Bolschewismus“ geplant und geführt wurde, erwog Hitler, einige hunderttausend deutsche Zivilisten, vor allem Juden, als potentielle „Novemberverbrecher“ und „asoziale Elemente“ ermorden zu lassen, um bei weiteren NiederlagenMeutereien und Revolutionen „vorzubeugen“.[19] Schon seit November 1941 wurden demgemäß auch deutsche Juden in den seit 23. Juni 1941 laufendenHolocaust einbezogen.