DieNevanlinna-Theorie, benannt nach ihrem BegründerRolf Nevanlinna, gehört in das mathematische Teilgebiet derFunktionentheorie. Sie trifft Aussagen über die Werteverteilungmeromorpher Funktionen.
Grundgedanke der Nevanlinna-Theorie[1] (oder Werteverteilungstheorie) ist es, eine quantitative Fassung desSatzes von Picard zu gewinnen. Dieser Satz besagt, dass es für verschiedene Werte
aus der Riemannschen Zahlenkugel
keine nicht-konstantemeromorphe Funktion
gibt.Um eine quantitative Fassung dieses Satzes zu gewinnen, betrachtet manfür
und
dieAnzahl
der
-Stellen einer nicht konstanten, meromorphen Funktion
imabgeschlossenen Kreis um 0 mit Radius
.Dabei werden die
-Stellen gemäß Vielfachheit gezählt.Es stellt sich als geeigneter heraus, statt der Funktion
die integrierte Anzahlfunktion

zu betrachten.(Für
muss dies geringfügig modifiziert werden, siehe unten.)Nevanlinna definierte nun einecharakteristische Funktion
, die mit
gegen unendlich strebt,und zeigte, dass für diemeistenWerte von
die Funktionen
und
von der gleichen Größenordnung sind.Genauer besagen seine beiden Hauptsätze, dass

für alle
und

für verschiedene
,mit einem im Vergleich zu
sehr kleinenFehlerterm
. Der Picardsche Satz folgt hieraus unmittelbar.
Damit das die Funktion
definierende Integralauch für
existiert, definiert man dieAnzahlfunktiongenauer als oben angegeben durch

Offensichtlich gilt
und
für
.Kurz schreibt man auch
, womit
für
.Des Weiteren definiert man dieSchmiegungsfunktion durch

wobei
.Für
setzt man entsprechend
.DieNevanlinna-Charakteristik
ist dann definiert durch

Es gilt
für
, wenn
nicht konstant ist.Ist
transzendent, gilt sogar

Fürganze Funktionen ist derMaximalbetrag

ein Maß für das Wachstum der Funktion.Für
gilt

Die Ordnung
einer meromorphen Funktion
ist definiert durch

Für ganze Funktionen kann man aufgrund der obigen Beziehung zwischen Nevanlinna-Charakteristik und Maximalbetrag hier
durch
ersetzen. Funktionen endlicher Ordnung bilden eine wichtige und ausführlich untersuchte Klasse meromorpher Funktionen.
Alternativ zur Nevanlinna-Charakteristik kann man auch eine vonLars Valerian Ahlfors undShimizu Tatsujirō eingeführte Variante verwenden. Die Ahlfors-Shimizu-Charakteristik unterscheidet sich von der Nevanlinna-Charakteristik nur um einen beschränkten Term.
DerErste Hauptsatz besagt, dass für alle

gilt. Insbesondere gilt also

Der erste Hauptsatz ist eine einfache Folgerung aus derJensenschen Formel.
Wesentlich tiefer liegt derZweite Hauptsatz.Dieser besagt, dass fürverschiedene
die Ungleichung

gilt, wobei

und
ein im Vergleich zu
kleinerFehlerterm ist. Genauer gilt, dass eine Menge
von endlichem Maß existiert, so dass

für
,
.
Mit Hilfe des ersten Hauptsatzes erkennt man, dass die Ungleichung

eine äquivalente Formulierung des zweiten Hauptsatzes ist.
Der Term
zählt die mehrfachen Stellen der Funktion. Bezeichnet man mit
und
die
und
entsprechenden Funktionen, wobei aber auch mehrfache
-Stellen nur einfach gezählt werden, so erhält man

Eine der wesentlichen Folgerungen aus dem zweiten Hauptsatz ist dieDefektrelation. Für
nennt man

Nevanlinnadefekt von
. Das zweite Gleichheitszeichen gilt dabei nach dem ersten Hauptsatz, da
für
. (Es sei immer vorausgesetzt, dass
nicht konstant ist.)Aus dem ersten Hauptsatz folgt, dass
für alle
. Man nennt
defekten Wert oderNevanlinnaschen Ausnahmewert, wenn
gilt. Nach dem zweiten Hauptsatz ist die Menge der defekten Wert abzählbar und es gilt dieDefektrelation

wobei die Summe über alle defekten Werte gebildet wird. Die Defektrelation ist eine weitreichende Verallgemeinerung desSatzes von Picard, denn ist
transzendent und nimmt
den Wert
nur endlich oft an, so gilt
. Auch eine vonBorel gegebene Verschärfung des Satzes von Picard folgt leicht aus dem zweiten Hauptsatz.
Ein zentrales Problem der Nevanlinnatheorie war lange, ob die Defektrelation und die Ungleichung
die einzigen Einschränkungen für die Nevanlinnadefekte einer meromorphen Funktion sind. Dieses sogenannte Umkehrproblem der Nevanlinnatheorie wurde 1976 vonDavid Drasin gelöst.[2] (Für ganze Funktionen war es vorher durchWolfgang Fuchs undWalter Hayman gelöst worden.) Für Funktionen endlicher Ordnung gibt es jedoch verschiedene weitere Einschränkungen. Gilt zum Beispiel Gleichheit in der Defektrelation, so folgt
mit einer natürlichen Zahl
und für jeden defekten Wert
gilt
mit einer natürlichen Zahl
. Dies war von Rolf Nevanlinnas BruderFrithiof vermutet worden und wurde 1987 von Drasin bewiesen.[3] Als weiteres Ergebnis über Nevanlinnadefekte meromorpher Funktionen endlicher Ordnung sei exemplarisch ein Ergebnis von Allen Weitsman[4] genannt, der 1972 zeigte, dass für solche Funktionen

gilt.
Viele weitere Resultate zu Nevanlinnadefekten finden sich in den unten angegebenen Büchern, wobei das Buch von Goldberg und Ostrovskii einen Anhang vonA. Eremenko und J. K. Langley enthält, in dem auch neuere Entwicklungen dargestellt sind.
Die Nevanlinnatheorie hat Anwendungen in verschiedenen Gebieten gefunden. So hat sie sich als wesentliches Hilfsmittel bei der Untersuchung vonDifferentialgleichungen undFunktionalgleichungen im Komplexen erwiesen, siehe etwa die Bücher von Jank-Volkmann und Laine.
Nevanlinna bewies als eine der ersten Anwendungen seiner Theorie folgendenEindeutigkeitssatz:[5] Stimmen die
-Stellen zweier meromorpher Funktionen
und
für 5 Werte
überein, so gilt
. Dieser Satz war Ausgangspunkt für viele andere Sätze dieses Typs.
In neuerer Zeit stießen vonPaul Vojta gefundene Analogien zwischen Nevanlinnatheorie undDiophantischer Approximation auf großes Interesse, vgl. das Buch von Ru.
Dieser Artikel beschränkt sich auf die klassische Theorie in einer komplexen Veränderlichen. Es gibt diverse Verallgemeinerungen, etwa auf algebroide Funktionen, holomorphe Kurven,[6] Funktionen mehrerer komplexer Veränderlicher und quasireguläre Abbildungen.[7]
- A. A. Goldberg,I. V. Ostrovskii:Distribution of values of meromorphic functions. American Mathematical Society, 2008; (Übersetzung: russisches Original 1970).
- W. K. Hayman:Meromorphic functions. Oxford University Press, 1964.
- G. Jank, L. Volkmann:Einführung in die Theorie der ganzen und meromorphen Funktionen mit Anwendungen auf Differentialgleichungen. Birkhäuser, Basel/ Boston/ Stuttgart 1985.
- Kunihiko Kodaira:Nevanlinna Theory. SpringerBriefs in Mathematics, ISSN 2191-8198, Springer Singapore 2017,ISBN 978-981-10-6786-0.
- I. Laine:Nevanlinna theory and complex differential equations. Walter de Gruyter, New York 1993.
- R. Nevanlinna:Le théorème de Picard-Borel et la théorie des fonctions méromorphes. Gauthier-Villars, Paris 1929.
- R. Nevanlinna:Eindeutige analytische Funktionen. Springer, Berlin 1953.
- Min Ru:Nevanlinna theory and its relation to Diophantine approximation. World Scientific, River Edge, NJ, 2001.
- ↑R. Nevanlinna:Zur Theorie der meromorphen Funktionen. In:Acta Mathematica. Band 46, 1925, S. 1–99.
- ↑D. Drasin:The inverse problem in Nevanlinna theory. In:Acta Mathematica. Band 138, 1976, S. 83–151. Aktualisiert in: D. Drasin:On Nevanlinnas inverse problem. In:Complex Variables Theory Application. Band 37, 1998, S. 123–143.
- ↑D. Drasin:Proof of a conjecture of F. Nevanlinna concerning functions which have deficiency sum two. In:Acta Mathematica. Band 158, 1987, S. 1–94.
- ↑A. Weitsman:A theorem on Nevanlinna deficiencies. In:Acta Mathematica. Band 128, 1972, S. 41–52.
- ↑R. Nevanlinna:Einige Eindeutigkeitssätze in der Theorie der meromorphen Funktionen. In:Acta Mathematica. Band 48, 1926, S. 367–391.
- ↑H. Weyl:Meromorphic functions and analytic curves. Princeton University Press, 1943.
- ↑S. Rickman:Quasiregular mappings. Springer-Verlag, Berlin 1993.