Martine Aubry (*8. August1950 inParis alsMartine Delors) ist einefranzösischePolitikerin derParti socialiste (PS). Sie ist seit März 2001 Bürgermeisterin vonLille und war von November 2008 bis Oktober 2012 erste Sekretärin (Parteivorsitzende) der PS.
Martine Aubry ist die Tochter des französischen Politikers und ehemaligen EU-KommissionspräsidentenJacques Delors.
Aubry besuchte nach ihrer Schulzeit am Lycée Paul-Valéry in Paris zweiElitehochschulen: 1972 schloss sie ihr Studium amSciences Po ab und wechselte zurÉcole nationale d’administration (ENA), die sie mit der AbschlussklasseLéon Blum verließ. Zur gleichen Zeit wurde sie in den Reihen derGewerkschaftCFDT aktiv.
Nach ihren Hochschulabschlüssen folgten erste Posten im Ministerium für Arbeit und Soziale Angelegenheiten unterJean Auroux – sie war an der Ausarbeitung der Gesetze von Auroux maßgebend beteiligt – undPierre Bérégovoy, sowie im Staatsrat und ab 1978 Lehrtätigkeiten an der ENA, bevor sie von 1989 bis 1991 in die UnternehmensgruppePechiney eintrat und nachJean Gandois stellvertretende Vorsitzende wurde.
Aubry heiratete 1973 Xavier Aubry, mit dem sie eine Tochter hat. Den Namen Aubry behielt sie auch nach der Scheidung bei. Am 20. März 2004 ging sie mit Jean-Louis Brochen, einem Anwalt aus Lille, eine zweite Ehe ein[1].
Aubry trat 1974 der Parti socialiste bei. Erste politische Erfahrungen sammelte sie als Mitarbeiterin im Ministerium für Arbeit und Soziales.
1991 wurde sie vonÉdith Cresson zur Ministerin für Arbeit und Berufliche Bildung ernannt und in der Folgeregierung unter Pierre Bérégovoy in diesem Amt bestätigt. Nachdem die Regierungsmacht wieder in die Hände der rechtsgerichteten Parteien gefallen war, gründete sie ihre StiftungAgir contre l’exclusion (FACE) und wurde 1995 vonPierre Mauroy als seine Stellvertreterin in das Rathaus vonLille gerufen.
Manche Beobachter sahen 1995 in dem Verzicht ihres Vaters als Kandidat zur Präsidentschaft anzutreten, den Wunsch, der Karriere seiner eigenen Tochter nicht im Wege zu stehen.Lionel Jospin, dem stattdessen von der Partei diese Rolle angetragen wurde, fand Verwendung für sie als Pressesprecherin seiner Kampagne. Als er nach seiner Niederlage erneut zum Parteisekretär gekürt wurde, beabsichtigte er, Martine Aubry zu seiner Stellvertreterin wählen zu lassen, diese lehnte allerdings das Angebot ab.
Nach dem Sieg derGauche plurielle (1997) und ihrer damit verbundenen Wahl zur Abgeordneten für dasDépartement Nord übernahm sie imKabinett Jospin den Posten der 'Ministerin für Arbeit und Solidarität'. Zugeschrieben werden ihr in dieser Position maßgebliche Verdienste um die Realisierung des bedeutendsten Wahlversprechens des Premierministers, dem Kampf gegenArbeitslosigkeit und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Diesbezüglich setzte sie mehrere Maßnahmen durch, insbesondere die Einführung der35-Stunden-Woche. Letztere Maßnahme, die aus den Reihen der Rechten und der Arbeitgeber heftig kritisiert wurde, löste eine lebhafte Debatte aus. Verfechter der Maßnahme wie Aubry wiesen auf die zusätzlichen Arbeitsplätze hin, die durch die Kürzung der Beschäftigungszeit pro Kopf entstanden. Auch argumentierten sie mit dem damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel wie auch mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch den Zugewinn an Freizeit. Gegner sahen in der Maßnahme hingegen ein Hemmnis für dieWettbewerbsfähigkeit Frankreichs. Sie befürchteten deshalb, der Ruin einer großen Zahl kleiner und mittlerer Unternehmen werde herbeigeführt.
Ferner wurde der Vorwurf laut, das Projekt sei voreilig ohne ausreichende Absprache mit denSozialpartnern durchgeführt worden und mit Zwangsmaßnahmen verbunden gewesen. De facto wurde bei der Einführung der 35-Stunden-Woche auf eine neue Form der Gesetzgebung zurückgegriffen: Ein erstes Gesetz, das am 12. Juni 1998 verabschiedet wurde, gab Leitlinien und Prinzipien auf der Grundlage einer freiwilligen Verpflichtung der Sozialpartner vor. Hierauf folgte ein zweites Gesetz, das ab dem 1. Januar 2000 die 35-Stunden-Woche verbindlich festsetzte und auf mehr als hunderttausend Übereinkünften auf Ebene der Betriebe und Branchen beruhte. Flankiert wurde die Begrenzung der maximalen Wochenarbeitszeit durch dieEmplois-jeunes-Maßnahmen, die Jugendlichen den Weg in denArbeitsmarkt ebnen sollten, durch ein Gesetz zur Vermeidung von Ausgrenzung sowie durch individuelle Zuwendungen, um die Unabhängigkeit bedürftiger Senioren zu garantieren. Mit Einführung derCouverture maladie universelle (CMU) kamen zudem erstmals alle Bürger in den Genuss einer allgemeinenKrankenversicherung.
2000 gründete Aubry einen Club namens 'Réformer' zur Reflexion über das politische Geschehen. Gleichzeitig trat sie aus der Regierung aus, um sich der Kampagne für die Kommunalwahlen intensiver zu widmen. Bei diesen kandidierte sie für die NachfolgePierre Mauroys als Bürgermeisterin vonLille. Ihr gelang es, das Amt zu erringen, wohingegen andere prominente Persönlichkeiten derParti Socialiste, wieJack Lang oderÉlisabeth Guigou, mit ihren Bürgermeister-Kandidaturen scheiterten. Nach den Niederlagen derParti Socialiste sowohl bei denPräsidentschaftswahlen 2002 als auch bei denWahlen zur Nationalversammlung im Juni 2002 konzentrierte sie sich auf ihre Arbeit im Rathaus von Lille.
Im Dezember 2004 schloss sie sich wieder der Führung der Parti Socialiste an und war nebenDominique Strauss-Kahn und Jack Lang dafür verantwortlich, ein Programm und Konzept im Hinblick auf die Wahlen 2007 auszuarbeiten.
Als Bürgermeisterin von Lille trug sie zu erheblichen Veränderungen des Stadtbildes bei, vorwiegend mit dem Projekt Lille 2004, das innerhalb eines Jahres mehr als 9 Millionen Besucher in die Stadt lockte, während dieseKulturhauptstadt Europas war.
Im November 2008 kandidierte Aubry im Anschluss an den Parteitag vonReims für den Posten der ersten Sekretärin (Vorsitzende) der Parti Socialiste. Sie entschied die Urwahl im zweiten Wahlgang mit einem Vorsprung von knapp 100 Stimmen (50,04 Prozent) gegenSégolène Royal für sich. Gegen ihre Unterstützer wurden Manipulationsvorwürfe erhoben. In die Parteiführung band sie weitere Strömungen ein, vor allem das Umfeld des Pariser BürgermeistersBertrand Delanoë und die Parteilinke umBenoît Hamon, womit es ihr gelang, die tief zerstrittene PS wieder zu stabilisieren.
Für diePräsidentschaftswahl 2012 galt es als sicher, dass Aubry zugunsten vonDominique Strauss-Kahn auf eine eigene Bewerbung für die Nominierung desParti Socialiste verzichten würde. Nachdem Strauss-Kahn nach Vergewaltigungsvorwürfen aber auf eine Bewerbung verzichtete, erklärte Aubry ihre Kandidatur für die offenenVorwahlen (Primaires citoyennes) des PS. In ihrer Kampagne sprach sie sich unter anderem dafür aus, langfristig aus derKernenergienutzung auszusteigen.[2] Bei den Vorwahlen erreichte sie mit 30 Prozent der Stimmen die Stichwahl,[3] die sie aber gegenFrançois Hollande verlor.[4]
Hollande wurde am 6. Mai 2012 zum nächstenPräsident Frankreichs gewählt: Er gewanndie Stichwahl gegen AmtsinhaberNicolas Sarkozy. Aubry wurde nach dem Wahlsieg als möglichePremierministerin und damit als eine Art Spitzenkandidatin für dieParlamentswahl im Juni 2012 gehandelt.[5] Hollande entschied sich aber stattdessen fürJean-Marc Ayrault. Aubry erklärte daraufhin, nicht für ein anderes Regierungsamt zur Verfügung zu stehen.[6] Auch das Amt alsPremière secretaire des PS gab sie in der Folge ab. Als ihren Nachfolger an der Parteispitze schlug Aubry am 12. September 2012 gemeinsam mit Premierminister AyraultHarlem Désir vor.[7] Dieser wurde am 18. Oktober offiziell gewählt, hatte aber bereits ab dem 17. September die Amtsgeschäfte übernommen.
Aubry betont seit ihrem Ausscheiden als Parteivorsitzende, sie konzentriere sich auf ihr Amt als Präsidentin der Agglomeration Lille und als Bürgermeisterin in Lille, wo sie 2014 erfolgreich für eine weitere Amtszeit kandidierte. Auf nationaler Ebene ist sie lediglich Mitglied des Parteivorstands (bureau national) des PS.
Aubry gilt allerdings weiterhin als eine einflussreiche Politikerin innerhalb des PS auf nationaler Ebene. Sie wurde Ende 2013 in den Medien als mögliche Kandidatin für das Amt der Premierministerin gehandelt, falls François Hollande die Regierung umbilden sollte.[8] Bei der dann erfolgten Regierungsumbildung im März 2014 ging das Amt aber anManuel Valls. In Umfragen wird sie als eine der beliebtesten Politiker der Linken bewertet.
Im November 2012 wurde gegen Aubry ein offizielles Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung eingeleitet. Dabei wurde ihr vorgeworfen, in ihrer Zeit als Direktorin für Arbeitsbeziehungen im Arbeits- und Sozialministerium Anfang der 1980er Jahre unzureichende gesetzliche Schutzmaßnahmen für Arbeitnehmer vorAsbest geduldet zu haben, möglicherweise unter dem Einfluss einer Lobby-Organisation. Aubry wies die Vorwürfe zurück und betonte, sie sei damals genauso wie andere staatliche Institutionen der Auffassung gewesen, die getroffenen Schutzmaßnahmen seien ausreichend.[9] Ende Februar 2013 beantragte die Pariser Generalstaatsanwaltschaft beim zuständigen Berufungsgericht die Einstellung des Verfahrens gegen Aubry und weitere Beschuldigte, entgegen der Position der zuständigen Ermittlungsrichterin.[10] Am 17. Mai 2013 stellte das Berufungsgericht in Paris das Verfahren ein.[11]
Ende 2014 forderte Aubry eine Änderung der Wirtschaftspolitik der Regierung Valls/Hollande und sprach sich für eineneue Sozialdemokratie ohne ökonomischen Liberalismus und Sozialliberalismus aus. Dies wurde als Unterstützung derfrondeurs, der Opposition gegen Präsident und Premierminister innerhalb der Fraktion in der Assemblée national und der Partei, gewertet.[12] Für den Kongress der Parti Socialiste in Poitiers schloss sie sich allerdings der Gruppe um den amtierenden ersten SekretärJean-Christophe Cambadélis an und nicht denfrondeurs.[13] Anfang 2016 veröffentlichte Aubry gemeinsam mit anderen einen Aufruf unter dem TitelSortir de l’impasse (Ausweg aus der Sackgasse), der eine grundlegende Veränderung der politischen Ausrichtung der Linken gegenüber dem Kurs der Regierung Hollande/Valls forderte.[14]
Aubry wurde als Bewerberin um einePräsidentschaftskandidatur 2017 gehandelt, was sie selbst allerdings regelmäßig dementierte.[15][16] Sie galt in Umfragen als eine Favoritin für die Vorwahlen der Sozialisten.[17] Mitte August 2016 schloss sie eine Kandidatur definitiv aus.[18]
Personendaten | |
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NAME | Aubry, Martine |
KURZBESCHREIBUNG | französische Politikerin und Bürgermeisterin von Lille |
GEBURTSDATUM | 8. August 1950 |
GEBURTSORT | Paris |