Madame Maigrets Freundin (französisch:L’amie de Mme Maigret) ist einKriminalroman des belgischen SchriftstellersGeorges Simenon. Er ist der 34. Roman einer Reihe von insgesamt75 Romanen und 28 Erzählungen um den KriminalkommissarMaigret. Der Roman entstand vom 13. bis 22. Dezember 1949 inCarmel-by-the-Sea[1] und wurde im Mai 1950 vom Pariser VerlagPresses de la Cité veröffentlicht.[2] Die erste deutsche ÜbersetzungFrau Maigret als Detektiv von Hansjürgen Wille und Barbara Klau publizierte 1954Kiepenheuer & Witsch. Im Jahr 1979 gab derDiogenes Verlag eine Neuübersetzung von Roswitha Plancherel unter dem TitelMadame Maigrets Freundin heraus.[3]
Bei einem Zahnarztbesuch macht Madame Maigret die Bekanntschaft einer jungen Mutter, die ihren kleinen Sohn ihrer Obhut anvertraut, während sie für Stunden verschwunden bleibt und anschließend überstürzt flüchtet. Zu ihrem Kummer verpasst Madame Maigret dadurch nicht nur ihren Zahnarzttermin, sondern lässt auch das Mittagessen ihres Mannes anbrennen. So fahndet Kommissar Maigret, der sich eigentlich um einen brisanten Mordfall zu kümmern hätte, amüsiert nach Madame Maigrets Freundin.
Es ist März inParis. Bereits seit drei Wochen beißt sich der gesamteQuai des Orfèvres an einem angeblichen Mordfall die Zähne aus. Ein anonymer Brief beschuldigt denflämischenBuchbinder Frans Steuvels, im Heizkeller seines Hauses an der Rue de Turenne eine menschliche Leiche verbrannt zu haben. Tatsächlich findet Inspektor Lucas im Heizofen zwei menschliche Zähne. Ein auffälliger Koffer, den sein junger Kollege Lapointe zuvor gesehen haben will, ist bei der Hausdurchsuchung jedoch verschwunden. Der verhaftete Buchbinder schweigt, sein aggressiver Anwalt Philippe Liotard führt in der Presse einen Feldzug gegen Polizei und Justiz, und während Lucas den bislang ergebnislosen Einsatz des Reviers koordiniert, bedauert Kommissar Maigret, dass seine gewohnte, bedächtige Methode wegen des öffentlichen Wirbels nicht anwendbar ist.
In dieser verfahrenen Situation ist es ausgerechnet Madame Maigret, die den Ermittlungen neue Impulse gibt. Wegen einer Zahnbehandlung fährt sie seit Tagen regelmäßig an die Place d’Anvers, wo sie beim Warten in der Märzsonne die Bekanntschaft einer jungen Frau gemacht hat, die auf der Parkbank ebenso regelmäßig ihr kleines Kind beaufsichtigt. Eines Tages verlässt die Bekannte überstürzt den Park, nachdem sie ihre Banknachbarin gebeten hat, auf ihren Jungen aufzupassen. Die pflichtbewusste Madame Maigret harrt ungeduldig aus und verpasst so nicht nur ihren Zahnarzttermin, sondern lässt auch das Mittagessen für ihren Gatten verkohlen. Als die Mutter zurückkehrt, hat sie kein Wort der Erklärung, sondern zerrt ihr Kind hektisch in ein Taxi und bleibt seit jenem Tag verschwunden.
Amüsiert gönnt sich Kommissar Maigret eine Pause in seinen Ermittlungen und fahndet nach der jungen Frau, die Madame Maigret in solche Kalamitäten gebracht hat. Doch als sich herausstellt, dass sie samt ihrem Geliebten, einem feisten Mann namens Levin, mit Alfred Moss gesehen wurde, einem ehemaligen Clown und Kleinkriminellen, erhält die Fahndung unerwartete Brisanz, denn Moss ist der Bruder des Buchbinders. Auf eigene Faust sucht Madame Maigret nach dem Hut ihrer verschwundenen Banknachbarin und findet eine Spur, die zumHôtel Claridge an derAvenue des Champs-Élysées führt, wo die junge Frau unter dem Namen Gloria Lotti als Zofe der Gräfin Panetti angestellt war. Die Gräfin ist seit einigen Wochen ebenso verschwunden wie ihr Schwiegersohn, der Ungar Krynker.
Nachdem Maigret seinem Gegenspieler Liotard einen Verstoß gegen die anwaltlichen Standesregeln nachweisen kann, weil dieser den Koffer des Buchbinders mitsamt der enthaltenen Druckplatten verschwinden ließ, steht der Anwalt dem Geständnis seines Mandanten nicht länger im Wege, um das Fernande Steuvels ihren Gatten anfleht. Frans Steuvels verdiente sich heimlich seit zwei Jahren ein Zubrot, indem er für seinen Bruder falsche Pässe druckte. Eines Abends tauchte Moss mit Levin und Krynker bei ihm auf, um einen Pass für den Ungarn zu fälschen. Die drei befanden sich auf der Flucht, nachdem sie gemeinschaftlich die Gräfin Panetti beraubt und getötet hatten. Als der Schwiegersohn die Nerven verlor, erschoss ihn Levin und verbrannte Krynkers Leiche gemeinsam mit den flämischen Brüdern im Ofen. Zwar führte der Qualm zur Anzeige eines Nachbarn, doch Levin und Moss tauchten nach Steuvels’ Festnahme unter, und erst die Bekanntschaft Madame Maigrets mit Gloria Lotti trieb sie aus ihrem Versteck. Ein Foto in der Zeitung enthüllte Levin die Identität von Glorias neuer Freundin, woraufhin er den Kommissar auf ihrer Fährte wähnte und sich zu jener überstürzten Flucht hinreißen ließ, die das Ehepaar Maigret erst auf die Räuberbande aufmerksam machte.
Laut Jean-Claude Vantroyen kreist der gesamte Roman um Madame Maigret. Sie eröffnet die Handlung, in der es ohne sie zwar einen Mord, aber keine Spur gäbe. Mit ihrem weiblichen Spürsinn erspäht sie die eleganten Schuhe ihrer Parkbekanntschaft, die nicht zu ihrer einfachen Aufmachung passen, und sie begibt sich ohne Wissen ihres Mannes auf die Suche nach dem extravaganten weißen Hut, die sie durch zahlreiche Hutgeschäfte von Paris führt.[4] Für Stanley G. Eskin wird Madame Maigret im Roman „zur charmanten Amateurdetektivin“.[5] Maigrets gewöhnlich eher zurückhaltende Gattin ist zwar in der Serie durchgehend präsent, aber Murielle Wenger zählt nur drei weitere Romane auf, in denen die Elsässerin eine tragende Rolle bei den Ermittlungen ihres Mannes spielt:Maigret amüsiert sich,Maigret und der Clochard undMaigret und das Gespenst. Gänzlich ungewöhnlich für die Reihe ist auch, dass Kommissar Maigret nicht bereits im ersten Abschnitt des Romans in die Handlung eingreift. Dieser bleibt inMadame Maigrets Freundin völlig den Abenteuern seiner Frau vorbehalten.[6]
Neben Madame Maigret hat noch eine zweite zentrale Figur der Reihe einen wichtigen Auftritt: Zum ersten Mal ermittelt der junge Inspektor Lapointe in Maigrets Team an der Seite seiner Kollegen Lucas, Janvier und Torrence. Mit gerade einmal 24 Jahren ist Lapointe noch so frisch amQuai des Orfèvres, dass er sich nicht traut, den Kommissar vertraulich „Chef“ zu nennen. Doch der junge Inspektor brennt vor Ehrgeiz, es in Maigrets Brigade zu etwas zu bringen. Es ist Lapointe zu verdanken, dass der verschwundene Koffer, in dem sich die Utensilien für Steuvels’ Passfälscherei befinden, in den Fokus der Ermittlung gerät, und er ist es selbst, der ihn am Ende in einer nicht ganz legalen Aktion sicherstellen darf. Lapointe wird in den folgenden Romanen zum bevorzugten Inspektor Maigrets, zu dem der kinderlose Kommissar eine beinahe väterliche Beziehung entwickelt. Bereits inMaigret und die Tänzerin wird der junge Mann erneut eine wichtige Rolle spielen und sich, nachdem er inMadame Maigrets Freundin der Damenwelt noch reserviert gegenüberstand, zum ersten Mal verlieben.[6]
FürTilman Spreckelsen sind es keine Personen, die im Mittelpunkt des Romans stehen, sondern Zähne in allen Variationen. Erst sind die im Ofen gefundenen Zähne die einzigen Indizien des Mordes, dann führen Madame Maigret ihre Zahnschmerzen zu regelmäßigen Terminen beim Zahnarzt, bei denen sie eine erste Spur der Mörder entdeckt. Schließlich zeigt auch der Verdächtige beim Verhör sein Gebiss vor. Auf einen früheren Roman verweist die Episode inConcarneau, woMaigret und der gelbe Hund spielte. Dieses Mal steigt ein Inspektor imGasthaus zum Gelben Hund ab.[7] Der Spitzname „Der Große Turenne“, den der kleine Inspektor Lucas im Roman aufgrund seiner koordinierenden Tätigkeit zum Mordfall in der Rue de Turenne erhält, bezieht sich auf den französischen FeldherrenHenri de La Tour d’Auvergne, vicomte de Turenne.[6] Maigrets Verständnis für seine Mitmenschen, das auch die Verbrecher einschließt, zeigt sich, als er der Verblüffung des Untersuchungsrichters wegen der Beteiligung eines Kindes entgegnet: „Anders als man manchmal vielleicht meint, sind Übeltäter wie andere Menschen auch imstande, Kinder zu haben und sie zu lieben.“[8][9]
Jean-Claude Vantroyen fasste in der belgischen TageszeitungLe Soir zusammen, dass sich der RomanMadame Maigrets Freundin um das Auffinden zweier Zähne und die Suche nach einem weißen Hut dreht und dass der Kommissar das Rätsel wie üblich löst. Doch er tue mehr als das: „Er offenbart die Protagonisten.“ Der Fall sei bei Simenon stets „ein Fotoentwickler, einLackmuspapier, das die unerwartete Wahrheit der Personen ans Licht bringt.“[10] Für Michel Lemoine handelte es sich jedenfalls um ein faszinierendes Drama, das von Kapitel zu Kapitel springt, den Leser bis in den Morgen wachhält und ihn gleichermaßen mit Begeisterung und Ärger über die durchwachte Nacht zurücklässt.[11]
DieNew York Times fand im Roman „mehr Polizeiarbeit als gewöhnlich“, einen Kommissar Maigret, der „weniger als einsamer Wolf und mehr als Polizeibeamter“ agiere und einen Plot, der „verschachtelt“ und „schwer zu verfolgen“ sei. Die guten Nebenrollen und liebenswerten Pariser Örtlichkeiten machten den Roman jedoch zu einem der besseren Simenons.[12] FürPublishers Weekly war die Geschichte „lockerer in seiner Handlung als die anderen Maigret-Krimis“, biete aber wie diese „eine überzeugende Beschwörung der Welt seines Helden“.[13]Kirkus Review besprach den Roman gleich doppelt, der „trotz einiger loser Enden und unaufgelöster Indizien“ lesenswert sei.[14] Es gebe jedoch „zu viele unentwickelte Figuren, zu viele verwirrende Handlungsverästelungen“, und die Geschichte lasse „die Klarheit, den Kniff und die psychologische Durchdringung seiner besten Arbeiten vermissen.“[15]
Für die LiteraturzeitschriftWelt und Wort warMadame Maigrets Freundin ebenso wieMaigret, Lognon und die Gangster „sauber und spannend erzählt“. Besonders hervorgehoben wurden „die mit knappen Mitteln erzielte Verlebendigung eines typisch französischen Milieus“ und die Kunst, „das individuell Menschliche in den Vordergrund zu rücken“.[16]Hans Reimann dagegen fand die Geschichte „nett erzählt, aber fade wie ungesalzener, mit Wasser zubereiteter Kartoffelpaps.“[17] Tilman Spreckelsen jedenfalls hatte „[s]elten einen so melancholischen Hauptverdächtigen gesehen“, der sich in der Untersuchungshaft die Zeit mit den sieben Bänden vonMarcel ProustsAuf der Suche nach der verlorenen Zeit vertreibt.[7]
Die Romanvorlage wurde viermal im Rahmen von Fernsehserien um den Kommissar Maigret verfilmt. Die Titelrolle spieltenRupert Davies inMaigret (Großbritannien, 1962), Kees Brusse (Niederlande, 1965),Jean Richard inLes Enquêtes du commissaire Maigret (Frankreich, 1977) und Kinya Aikawa (Japan, 1978).[18]
Im Jahr 1957 produzierte derWDR unter dem TitelFrau Maigret als Detektiv eine Hörspielbearbeitung vonOtto Bielen. Unter der Regie vonOtto Kurth sprachen unter anderemLeonard Steckel (Maigret),Trude Meinz (Frau Maigret),Wilhelm Pilgram,Horst Breitkreuz undKarl Heinz Bender.[19]