Der Titel dieses Artikels ist mehrdeutig. Zur gleichnamigen Teildisziplin der praktischen Theologie sieheKybernetik (Theologie).
Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik
Kybernetik ist nach ihrem BegründerNorbert Wiener die Wissenschaft derSteuerung undRegelung von Maschinen und deren Analogie zur Handlungsweise von lebenden Organismen (aufgrund derRückkopplung durchSinnesorgane) und sozialen Organisationen (aufgrund der Rückkopplung durchKommunikation undBeobachtung). Sie wurde auch mit der Formel „die Kunst des Steuerns“ beschrieben.Der Begriff „Kybernetik“ wurde Mitte des 20. Jahrhunderts vomenglischencybernetics in die deutsche Sprache übernommen. Darin steckt dasgriechische Wortκυβερνήτηςkybernetes fürSteuermann.
Ein typisches Beispiel für das Prinzip eines kybernetischen Systems derRegelungstechnik ist einThermostat. Er vergleicht denIstwert eines Thermometers mit einemSollwert, der als gewünschte Temperatur eingestellt wurde. Eine Abweichung zwischen diesen beiden Werten veranlasst den Regler im Thermostat dazu, die Wärmezufuhr (üblicherweise die Durchflussmenge) so zu regulieren, dass sich der Istwert dem Sollwert angleicht. DerFliehkraftregler in derDampfmaschine und in derEinspritzpumpe desDieselmotors regelt die Zufuhr von Dampf bzw. Kraftstoff und ist unverzichtbar für die stabileDrehzahlregelung eines an sich instabilen Systems und verhindert dessenDurchgehen durchunkontrollierte Überdrehzahl.
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Seit derAntike findet man schriftliche Zeugnisse systemorientierten Denkens. Der griechische EpendichterHomer schriebκυβερνήτηςkybernetes und meinte damit den Steuermann eines Schiffes.Platon benutzte den Begriff im übertragenen Sinne, wenn er von einem „Mann am Steuerruder einerRegierung“ sprach. DerApostel Paulus wiederum benutzt den griechischen Begriffκυβέρνησιςkybernesis im1. Korintherbrief (1 Kor 12,28 EU), um die „Fähigkeit zu leiten“ zu thematisieren.
1834 entwickelte der PhysikerAndré-Marie Ampère die Idee einer Wissenschaft, die ercybernétique nannte.[1]
Titelblatt von Wieners 1948 erschienenem WerkCybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine
In den 1940er Jahren entstanden die Wurzeln der Wissenschaft Kybernetik, als man Gemeinsamkeiten zwischen dem Gehirn und Computern untersuchte und Schnittstellen verschiedener Einzeldisziplinen erkannte, die menschliches Verhalten,Nachrichtenübertragung,Regelungstechnik, Entscheidungs- undSpieltheorie und statistischeMechanik betrachteten. Gegen Ende des Winters 1943/44 organisiertenNorbert Wiener undJohn von Neumann inPrinceton ein gemeinsames Treffen mit Ingenieuren, Neurowissenschaftlern und Mathematikern zu diesem Themenkreis.[2]:147–151[3]:43 Ein weiterer Katalysator dieser Entwicklung waren von 1946 bis 1948 dieMacy-Konferenzen mit dem ThemaCircular causal, and feedback mechanisms in biological and social systems und von 1949 bis 1953 mit dem programmatischen TitelCybernetics.[4] Norbert Wiener hat den Begriff „Kybernetik“ schließlich im Sommer 1947 von dem griechischenkybernétes für „Steuermann“ abgeleitet und damit den bedeutenden Beitrag vonJames Clerk Maxwell zum Rückkoppelungsmechanismus mit einemFliehkraftregler geehrt.[5] Dessen englische Bezeichnunggovernor leitet sich aus demlateinischengubernator „Steuermann“ ab, einem lateinischenLehnwort des altgriechischenkybernétes.
In gedruckter Form wurde der Begriff von Norbert Wiener erstmals 1948 inCybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine verwendet.[3]:39 Im gleichen Jahr veröffentlichte er in der ZeitschriftScientific American einen grundlegenden Übersichtsartikel zur Kybernetik.[6]
Ab 1948 brachte John von Neumann in seinen Vorlesungen weitere Ergänzungen in die Kybernetik ein:Von Neumann-Zellularautomaten und ihre logische Fortsetzung – denvon Neumann Universal Constructor. Das Ergebnis dieser Gedankenexperimente war 1953 die Theorie derselbstreproduzierenden Automaten bzw. derSelbstreplikation.[7] Diese Konzepte übertragen Eigenschaften der genetischen Reproduktion auf soziale Meme und lebende Zellen und, seit den 1970ern, aufComputerviren. Norbert Wiener ergänzte 1961 sein Kybernetik-Grundlagenbuch mit zwei weiteren Kapiteln:Über lernende und sich selbst reproduzierende Maschinen[3]:241–256 sowieGehirnwellen und selbstorganisierende Systeme.[3]:257–284
Maßgeblich für die Entwicklung des Fachgebiets waren die vonHeinz von Foerster in den USA ab den 1950ern herausgegebenenTagungsbändeCybernetics der interdisziplinärenMacy-Konferenzen der Josiah Macy Jr. Foundation (Macy-Stiftung). Die weiteren Entwicklungen nach den Macy-Konferenzen gehen aus der Geschichte der Anwendungsfelder hervor (siehe rechte Tabelle).
Der Begründer der Kybernetik in Deutschland istHermann Schmidt, der dieses Gedankengut zeitgleich und unabhängig von Norbert Wiener entwickelte und 1944 auf den ersten Lehrstuhl fürRegelungstechnik in Deutschland an derTH Berlin-Charlottenburg berufen wurde. In Deutschland wurde auch im Jahre 1957, vor dem gleichen wissenschaftshistorischen Hintergrund, die StudieDas Bewusstsein der Maschinen – Eine Metaphysik der Kybernetik des PhilosophenGotthard Günther publiziert. Weiterhin erschien im Jahre 1961 das BuchKybernetik in philosophischer Sicht des Mathematikers und PhilosophenGeorg Klaus, das bis 1964 vier Auflagen erreichte. Von diesem Autor folgten noch mehrere Bücher zur Kybernetik in ihren sozialen und geistigen Auswirkungen.
Auch der PhilosophMartin Heidegger konnte sich diesem universellen Anspruch nicht entziehen: „Die Philosophie hat in der gegenwärtigen Epoche ihr Ende erreicht. Sie hat ihren Platz im wissenschaftlichen Standpunkt gefunden. … Das grundsätzliche Kennzeichen dieser wissenschaftlichen Determination ist, daß sie kybernetisch, d. h. technologisch, ist.“[9][10]
Unter den populärwissenschaftlichen Büchern sind insbesondere die Veröffentlichungen vonKarl Steinbuch zu nennen, der 1957 zusammen mitHelmut Gröttrup den BegriffInformatik prägte, die im Gegensatz zur Kybernetik eine mehr formalistische und technische Ausrichtung der Datenverarbeitung beschreiben. Steinbuch propagierte die Kybernetik als „zukünftige Universalwissenschaft“, in der „der Kybernetiker der Vermittler zwischen den Spezialisten sein wird“.[11]
Einphilosophisches Interesse an der Kybernetik geht darauf zurück, dass diese die Möglichkeit eröffnet, den Begriff „Zweck“rekursiv zu begreifen: Der Zweck eines komplexen Systems, etwa eines Lebewesens oder einesArbeits- und Handlungssystems, ist so betrachtetes selbst. Ein Zweck bräuchte keine vom System getrennte Instanz mehr, die ihn setzt.
Im Rahmen der Regelungstechnik steht heute eine spezielle leistungsfähigemathematische Systemtheorie zur Verfügung, mit der das Verhalten von Systemen undRegelkreisen beschrieben und berechnet werden kann. In derNetzwerktheorie wiederum wird nach allgemeinen Prinzipien vernetzter Wirkungsgefüge gesucht. DieEntscheidungs- und dieSpieltheorie, die sich mit Entscheidungsprozessen in teils komplexen Situationen mehrdimensionaler Zielräume befassen, gewinnen eine wachsende Bedeutung insbesondere inMedizin,Militär undWirtschaft.
Gregory Bateson:Steps to an Ecology of Mind: Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology. University of Chicago Press, 1972.
Lars Bluma:Norbert Wiener und die Entstehung der Kybernetik im Zweiten Weltkrieg. LIT Verlag, Münster 2005,ISBN 3-8258-8345-0.
Michael Eckardt:Mensch-Maschine-Symbiose. Ausgewählte Schriften von Georg Klaus zur Konstruktionswissenschaft und Medientheorie. VDG, Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2002,ISBN 3-89739-316-6.
Slawa Gerowitsch:From Newspeak to Cyberspeak. A History of Soviet Cybernetics. MIT Press, 2002,ISBN 978-0-262-07232-8.
Klaus Fuchs-Kittowski, Siegfried Piotrowski (Hrsg.):Kybernetik und Interdisziplinarität in den Wissenschaften. trafo Verlag, Berlin 2004,ISBN 3-89626-435-4.
Michael Hagner:Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft. In: Michael Hagner, Erich Hörl (Hrsg.):Die Transformation des Humanen: Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. (=suhrkamp taschenbuch wissenschaft; Bd. 1848). Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008,ISBN 978-3-518-29448-2, S. 38–71.
Martin Kaufmann:Der Baum der Kybernetik. Die Entwicklungslinien der Kybernetik von den historischen Grundlagen bis zu ihren aktuellen Ausformungen. proEval Verlag, Dornbirn 2007,ISBN 978-3-200-01048-2.
Jan Müggenburg:Lebhafte Artefakte: Heinz von Foerster und die Maschinen des Biological Computer Laboratory. Verlag: Konstanz University Press, 1. Auflage, 2018,ISBN 978-3-8353-9103-1.
↑Hans Joachim Flechtner:Grundbegriffe der Kybernetik. 1970, S. 9.
↑Thomas Rid:Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik. Propyläen, Berlin 2016,ISBN 978-3-549-07469-5 (492 S., amerikanisches Englisch:Rise of the Machines. A Cybernetic History. New York 2016. Übersetzt von Michael Adrian, Erstausgabe: W.W. Norton & Company).
↑abcdNorbert Wiener:Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine. Zweite, revidierte und ergänzte Auflage. Econ-Verlag, Düsseldorf 1963 (287 S., amerikanisches Englisch:Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine. 1948. Übersetzt von E. H. Serr, E. Henze, Erstausgabe: MIT-Press).
↑James Clerk Maxwell: On Governors. (PDF; 978 kB) 20. Februar 1868, abgerufen am 15. Juli 2019 (englisch). “A Governor is a part of a machine by means of which the velocity of the machine is kept nearly uniform, notwithstanding variations in the driving-power or the resistance.”
↑Norbert Wiener:Cybernetics. In:Scientific American.Band159,Nr.5, November 1948,S.14–19,JSTOR:24945913 (englisch).
↑John von Neumann:Theory of Self-reproducing Automata. Hrsg.:Arthur W. Burks. University of Illinois Press, 1967,ISBN 0-252-72733-9 (englisch, 388 S.,posthum herausgegeben).
↑Martin Heidegger:La fin de la philosophie et la tache de la pensée. In:Kierkegaard Vivant. Paris 1966,S.178 (französisch, zitiert von Hans Lenk in Kybernetik − Provokation der Philosophie).
↑Karl Steinbuch:Automat und Mensch. Kybernetische Tatsachen und Hypothesen. 3. Auflage. Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 1965,S.359 (454 S.).
↑Eran Magen, James Gross:The cybernetic process model of self-control und Paul Karoly:Goal systems and self-regulation. In: Rick H. Hoyle (Hrsg.):Handbook of Personality and Self-Regulation. Blackwell Publishing, 2010.