Kurt Gerstein (*11. August1905 inMünster; †25. Juli1945 inParis) war ein deutscher Hygienefachmann derWaffen-SS, zuletzt im Rang einesSS-Obersturmführers.
In den VernichtungslagernBelzec undTreblinka war er 1942 Augenzeuge des probeweisen Einsatzes vonAbgasen beiMassenmorden; ebenso wusste er von der späteren Verwendung vonZyklon B für den gleichen Zweck. Noch während desZweiten Weltkriegs versuchte Gerstein, dasneutrale Ausland über seine Beobachtungen zu informieren. Nach derbedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht legte er seine Erkenntnisse schriftlich nieder. DerGerstein-Bericht wurde imNürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als Beleg für die Liefermengen von Zyklon B nachAuschwitz erwähnt.[1]
Gersteins Persönlichkeit und Rolle sind in der Geschichtswissenschaft umstritten: Manche Historiker sehen ihn als einen derBekennenden Kirche nahestehenden Christen, der versuchte, Informationen über die Verbrechen der Nationalsozialisten zu erlangen und gegen dasNS-Regime zu verwenden. Andere sehen in ihm den Mittäter, der sein Fachwissen zur „Verbesserung“ der Massenmordmethoden weitergab und erst nach der Kapitulation Deutschlands versuchte, sich als heimlichen Kämpfer imWiderstand gegen den Nationalsozialismus darzustellen.
Kurt Gersteins Eltern waren der Landgerichtspräsident Ludwig Gerstein (1868–1954) und dessen Frau Klara geb. Schmemann. Der Vater war Ehrenmitglied desCorps Teutonia zu Marburg. Als sechstes von sieben Kindern galt Kurt Gerstein seinen Eltern als das schwierigste ihrer Kinder. Er fiel den Lehrern als intelligenter, aber aufsässiger Schüler durch viele Streiche auf. Nach dem Umzug seiner Familie nachNeuruppin 1921 fand er durch befreundete Familien Kontakt zur evangelischen Kirche. Als Mitarbeiter und Leiter von Schülerbibelkreisen setzte er sich für Alkoholikerfürsorge und gegen außereheliche Sexualität ein.[2][3] Nach dem Abitur 1925 schloss er sich demChristlichen Verein Junger Männer (CVJM) an. 1925–1931 studierte er zunächst an derRWTH Aachen und derPhilipps-Universität MarburgBergbau. Am 28. Juli 1929 wurde er als Gerstein VIICorpsschleifenträger von Teutonia Marburg.[4] Dass er den Trinkzwang für unvereinbar mit dem Christsein hielt, führte zum vorübergehenden Ausschluss aus seinemCorps. Er wechselte an dieTechnische Hochschule Berlin. Seit 1931 Bergreferendar und seit 1935Bergassessor, war er beschäftigt bei derBergwerksdirektion Saarbrücken.
Gerstein trat zum 1. Mai 1933 derNSDAP (Mitgliedsnummer 2.136.174)[5] und 1934 derSA bei.[6] Als evangelischer Jugendführer, Mitglied derBekennenden Kirche und des CVJM sowie Mitarbeiter inBibelkreisen kam er in Konflikt mit der religionsfeindlichen Politik der NSDAP. Weil er im „Verein deutscher Bergleute“ Propaganda für die Bekennende Kirche machte, wurde er am 24. September 1936 das erste Mal in Saarbrücken verhaftet und saß bis zum 18. Oktober inSchutzhaft. Daraufhin wurde er aus der Partei ausgeschlossen, womit auch seine Betätigung im Staatsdienst ihr Ende fand. Den Parteiausschluss focht er auf Drängen seiner Familie an, worauf der Ausschluss in eine etwas ehrenvollere Entlassung aus der Partei umgewandelt wurde. Am 14. Juli 1938 wurde er an seinem Wohnort Tübingen ein zweites Mal verhaftet, kam insSchutzhaftlager Welzheim, wurde aber sechs Wochen später, am 28. August, wieder freigelassen, weil man die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen nicht aufrechterhalten konnte.
Im Dezember 1936 begann Gerstein sein Medizinstudium in Tübingen. Anfang 1941 meldete er sich als Freiwilliger bei der SS und trat am 13. März 1941 in dieWaffen-SS ein. Nach dem Krieg erklärte er seinen Eintritt folgendermaßen:[7]
„Als ich von der beginnendenUmbringung der Geisteskranken inGrafeneck undHadamar und andernorts hörte, beschloss ich, auf jeden Fall den Versuch zu machen, in diese Öfen und Kammern hineinzuschauen, um zu wissen, was dort geschieht.“
Seine militärische Ausbildung erhielt er inHamburg-Langenhorn,Arnheim undOranienburg. Aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse kam er schließlich zumHygiene-Institut der Waffen-SS. Dort wurde er im Januar 1942 Chef der Abteilung Gesundheitstechnik und war zuständig für den technischen Desinfektionsdienst. Damit hatte er für die Beschaffung vonZyklon B zu sorgen, das regelmäßig in großen Mengen zurEntwesung von Kleidung und Unterkünften benötigt wurde.
Im August 1942 erhielt Gerstein den Auftrag, in den Vernichtungslagern Belzec und Treblinka den Massenmord an Menschen mittels Abgasen zu beobachten und Verfahren für eine „Verbesserung“ zu entwickeln. Gemeinsam mitRolf Günther und demHygienikerWilhelm Pfannenstiel wurde er hierbei Zeuge, wie Menschen inGaskammern mit Motorabgasen umgebracht wurden. Seine Aufgabe war es, zu prüfen, ob die Vergasungsanlagen auf Zyklon B umgerüstet werden könnten. Seiner späteren Darstellung (April 1945) zufolge war er über das, was er gesehen hatte, so erschüttert, dass er auf der Zugrückfahrt von Treblinka am 20. August 1942 dem Sekretär derschwedischen GesandtschaftGöran von Otter seine Erlebnisse erzählte mit der Bitte, diese an das Ausland weiterzugeben. Göran von Otter setzte daraufhin den evangelischen früheren Generalsuperintendenten und späteren BischofOtto Dibelius und den katholischen BischofKonrad Graf von Preysing in Kenntnis, jedoch ohne Folgen. Auch unternahm Gerstein einen Versuch, denApostolischen Nuntius und dieSchweizer Gesandtschaft in Berlin aufzusuchen, was jedoch scheiterte.[8] Desgleichen gelang es ihm nicht, seinen Vater, einen pensionierten Richter, vom Ausmaß des Verbrechens zu überzeugen.[9]
Als ihn im Februar 1943 sein niederländischer Freund Ubbink besuchte, erzählte er auch ihm, was er gesehen hatte, und drängte ihn, die Informationen über die Massentötungen in denKonzentrationslagern an denniederländischen Widerstand weiterzugeben, damit sie per FunkspruchLondon erreichten, was auch geschah. Auch diese Aussage wurde nach dem Krieg durch einen Zeitzeugen belegt.
Im Laufe der Zeit wurde Gerstein immer weiter in die Vernichtungsmaschinerie hineingezogen, da er im Rahmen seines Dienstes auch Zyklon B beschaffen musste, das für die Tötung von Menschen bestimmt war. Er forderte von derDegesch eine Sonderform des Zyklon B an, das keinen Warn- und Reizstoff enthielt. Allerdings will er diese Lieferungen dann als überlagert und verdorben erklärt oder nur zur Bekämpfung von Läusen verwendet haben.
Seine Verstrickung und das Wissen darum, was in den Konzentrationslagern geschah, führte ihn (nach eigenen Angaben) in immer tiefereDepression und Verzweiflung. Trotzdem versuchte er weiter, vom Regime bedrohten Menschen zu helfen. Zum Beispiel verteilte er gefälschte Ausweise, die den Träger als Angestellten der SS auswiesen, womit er sich selbst in Gefahr brachte.
Am 22. April 1945 stellte sich Gerstein inReutlingen derfranzösischen Armee und wurde interniert. Er bot sich als Zeuge an und händigte dem amerikanischen „Field Team“ am 5. Mai 1945 inRottweil mehrere Dokumente und Schriftstücke aus, darunter eine auf Französisch abgefasste und auf den 26. April datierte sechsseitige Fassung seines Lebenslaufes, seiner Tätigkeit und Erlebnisse sowie eine zweiseitige Kurzfassung in englischer Sprache. Er verfasste das Dokument auf einer geliehenen Schreibmaschine während der Gefangenschaft in derPredigerkirche in Rottweil, die bei Kriegsende als Gefangenenlager genutzt wurde. Ein Jahr später wurde eine auf den 4. Mai datierte deutsche Parallelfassung in Rottweil sichergestellt, die sprachlich klarer ist, keine verallgemeinernde Schätzung der Opferzahl enthält und in dieser Form heute als „Gerstein-Bericht“ zitiert wird.[10] Der Wert des Berichts besteht in der Schilderung der Vorgänge in Belzec. An seiner Authentizität und Gersteins subjektivem Willen zur Genauigkeit und Wahrhaftigkeit besteht kein Zweifel.[11]
Gerstein war zunächst in einer Art Ehrenhaft und konnte sich zwischen Tübingen und Rottweil frei bewegen. Dann wurde er nachParis gebracht und dort als Angeklagter vernommen. Am 25. Juli 1945 wurde er in seiner Zelle im PariserMilitärgefängnisCherche-Midi erhängt aufgefunden. Es ist umstritten, ob er durchSuizid starb oder von Mitgefangenen ermordet wurde.[12] Gerstein wurde auf dem Pariser FriedhofCimetière parisien de Thiais inThiais, südlich der Hauptstadt, beerdigt. Sein Grab ist nicht mehr auffindbar.[13][14]
Gersteins Rolle wurde im Prozess gegen Gerhard Peters von derDeutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung durchleuchtet. Das Gericht hielt es nicht für erwiesen, dass das von Gerstein angeforderte Zyklon B ohne Warnstoff zur Ermordung verwendet wurde, schloss dies aber auch nicht aus. Gerstein wurde in derEntnazifizierung als belastet eingestuft. Im Spruch der Entnazifizierungskammer hieß es, Gerstein sei auf seinem Posten zwangsläufig zum Handlanger des organisierten Massenmordes geworden und hätte sich von dort wegmelden müssen. Auch in einem Revisionsverfahren kam es zu keinem günstigeren Urteil. Den Hinterbliebenen wurde die Auszahlung einer Erbschaft in Höhe von 3000 US-Dollar versagt. Die Witwe sollte Verfahrenskosten in Höhe von 24.000Reichsmark begleichen.[15]
Eine Intervention vonHermann Ehlers und ein Gnadengesuch beim Ministerpräsidenten von Baden-WürttembergGebhard Müller blieben in der Sache erfolglos; der Witwe wurden jedoch die Kosten des Verfahrens erlassen. Ein Antrag auf „Kriegshinterbliebenenrente“ nach demBundesversorgungsgesetz wurde 1962 letztinstanzlich abgewiesen. Erst 1963 begann das Umdenken. Issy Wygoda setzte sich für Gersteins Rehabilitierung ein; auch derZentralrat der Juden würdigte Gerstein. Mit der Uraufführung von Rolf HochhuthsDer Stellvertreter wurde das Schicksal Kurt Gersteins einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. 1965 schließlich stufte MinisterpräsidentKurt Georg Kiesinger Gerstein in die Gruppe der „Entlasteten“ um. 1969 erhielt die Witwe eine Rente nach dem Bundesergänzungsgesetz zugesprochen.[15]
In den 1990er-Jahren hat die Auseinandersetzung um die Neubewertung der Person Gersteins erneut begonnen. Die erste großeBiografie erschien nicht in Deutschland, sondern 1995 in Frankreich.[16] 2018 habenHermann Kaienburg undAndrej Angrick eine genauere Überprüfung zur Bewertung gefordert.[17]
Literarisch wurde die Figur des Kurt Gerstein imDramaDer Stellvertreter (1963) von Rolf Hochhuth verarbeitet, cineastisch in der erfolgreichen französischenVerfilmung des Werkes durchConstantin Costa-Gavras aus dem Jahre 2002, die ihn ganz in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Im Film wird Gerstein vonUlrich Tukur dargestellt.
Personendaten | |
---|---|
NAME | Gerstein, Kurt |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Angehöriger der Waffen-SS, Abteilungsleiter im Hygieneinstitut der Waffen-SS |
GEBURTSDATUM | 11. August 1905 |
GEBURTSORT | Münster |
STERBEDATUM | 25. Juli 1945 |
STERBEORT | Paris |