Joris-Karl Huysmans [ɥismɑ̃ːs] (eigentlichCharles Marie Georges Huysmans; *5. Februar1848 inParis; †12. Mai1907 ebenda) war ein französischer Schriftsteller, der sich vor allem alsRomancier betätigte.
Joris-Karl Huysmans war der Sohn des holländischenLithographen Godfried Huysmans († 1856) und der Lehrerin Malvina Badin. Nach dem Tod des Vaters heirateten die Witwe und der Buchbinder Jules Og im Jahr 1857. WegenRessentiments gegen seinen Stiefvater kam Huysmans in ein Internat, wo er eine wenig glückliche Schulzeit verbrachte. Nach demAbitur nahm er einen Posten als mittlerer Angestellter imfranzösischen Innenministerium an. Dort blieb er – unterbrochen von etlichen Beurlaubungen – bis 1898. Wenig beständig waren seine Beziehungen zu Frauen. Sie bereiteten ihm viele Enttäuschungen, lieferten ihm aber auch Stoff für seine Romane. In deren Mittelpunkt steht häufig ein vom Leben und von Frauen enttäuschter Junggeselle.
Neben seinem Beruf arbeitete Huysmans als Autor. Zunächst publizierte er kürzere Texte in Zeitschriften. Seine erste Veröffentlichung war 1874 eine Sammlung von Gedichten unter dem TitelLe Drageoir aux épices, wobei er erstmals den flämisch wirkenden Vornamen Joris-Karl verwendete.
1876 lernte erÉmile Zola kennen und schloss sich der um diesen versammelten Gruppe derNaturalisten an. Im selben Jahr brachte er seinen ersten RomanMarthe, histoire d’une fille heraus. Das Werk war beeinflusst von dem naturalistischen RomanGerminie Lacerteux (1863/64) der GebrüderGoncourt sowie von ZolasThérèse Raquin (1867). Huysmans schrieb jedoch so drastisch, dass das Buch für einige Zeit als sittenwidrig verboten wurde. 1877 bezeugte er seine Freundschaft zu Zola mit einer Reihe lobender Zeitschriften-Artikel über ihn und dessen neuen RomanL’Assommoir.
Auch die aufMarthe folgenden erzählenden Werke Huysmans’ sind überwiegend im Milieu der Pariser Unterschicht angesiedelt und von einem drastischenRealismus bestimmt. Es sind der Roman:Les Sœurs Vatard (= die Schwestern V., 1879), der die mediokre amouröse und berufliche Existenz zweier Buchhefterinnen schildert; die ErzählungSac au dos (= der Sack auf dem Rücken), die er für den antimilitaristischen SammelbandLes Soirées de Medan verfasste, den Zola 1880 herausgab; der RomanEn ménage (= Leben zu zweit, 1881), in dem er die ihm nur allzu gut bekannte Problematik des Künstlers zwischen dem Drang nach ungestörtem Schaffen und dem Bedürfnis nach einer sexuellen und affektiven Beziehung darstellt, zugleich aber auch zwei Künstlertypen konfrontiert in Gestalt eines mehr realitätsverbundenen Schriftstellers und eines eher realitätsfernen, ästhetisierenden Malers; der RomanLa Retraite de M. Bougran (= die Pensionierung Herrn B.s, 1888), in dem er die Schwierigkeiten eines pensionierten Ministerialbeamten bei der Findung eines neuen Lebenssinns beschreibt;A vau-l’eau (= den Bach runter, 1882), in dem er einen kleinen Beamten in den Mittelpunkt stellt, der aus seinem kläglichen Trott nicht herauskommt. Auch die beiden letzteren Romane spiegeln wohl zum Teil Probleme Huymans' selbst, der 1881 wegen nervöser Erschöpfung einen längeren Urlaub genommen hatte, um sich in einer Privatklinik in einem Pariser Vorort zu erholen.
1883 publizierte er unter dem TitelL’Art moderne (= die moderne Kunst) einen Sammelband mit Kunstkritiken aus den Jahren 1879–1882. Huysmans brachte 1884 das Werk heraus, das ihm seinen Platz in der Literaturgeschichte sichern sollte: den RomanÀ rebours (Übersetzungen ins Deutsche unter dem Titel:Gegen den Strich). Die minimale Handlung kreist um einen dekadenten und neurotischen jungen Aristokraten namensJean Floressas Des Esseintes. Dieser ähnelte äußerlich dem in der Pariser Gesellschaft bekannten Dichter und DandyRobert de Montesquiou, der später auch das Vorbild für denBaron Charlus inMarcel Prousts RomanfolgeAuf der Suche nach der verlorenen Zeit abgeben sollte. Esseintes zieht sich zunehmend aus der für ihn unbefriedigenden sozialen Realität zurück. Er spinnt sich in seinem Vorstadthäuschen in eine artifizielle Welt desÄsthetizismus undMystizismus ein und landet allmählich am Rande geistiger Umnachtung. Der Roman war eigentlich als naturalistische Studie eines erblich belasteten und krankmachend lebenden „dekadenten“ Individuums gedacht, das viele Züge des Autors selber trägt. Er wurde jedoch von vielen Lesern als ein „Brevier derDekadenz“ aufgenommen, in dem sie eigene Probleme und ein Problem ihrer Zeit wiedererkannten.A rebours wurde so eine Zeitlang zum Kultbuch, und zwar nicht nur für Anhänger des Naturalismus, sondern auch für solche dersymbolistischen Schule. Auch ausländische Leser wieOscar Wilde waren angetan davon. Dessen RomanfigurDorian Gray (1890) trägt manche Züge von HuysmansEsseintes.[1] Der LyrikerMallarmé formulierte 1885 die symbolistische Poetik in einem langen Gedicht mit dem paradoxen TitelProse pour Des Esseintes.
Der nächste Roman von Huysmans, und sein erster, der auf dem Land spielt,En rade (= auf Reede), erschien erst 1887. 1888 folgte der Autor einer Einladung nach Hamburg und schloss eine längere Reise durch Deutschland an. 1890 war er einer der Gründer derAcadémie Goncourt und wurde ihr erster Vorsitzender. Um dieselbe Zeit begann er, offenbar einmal mehr in eine Phase der Sinnsuche eingetreten, sich dem Einfluss okkultistisch interessierter Personen zu öffnen und sich mit entsprechenden Vorstellungen und Praktiken zu beschäftigen. Die Krise mündete schließlich − unter dem Einfluss desAbbé Mugnier − in Frömmigkeit und führte ihn ab 1892 zu mehreren Klosteraufenthalten in der Provinz und zur Einkleidung alsLaienbruder in derAbtei Saint-Martin vonLigugé beiPoitiers.
Die genannte Entwicklung verarbeitete Huysmans in vier Romanen um denselben Protagonisten, einen Schriftsteller namens Durtal. Es sind:Là-bas (= da drüben/da hinten, 1891),En route (= unterwegs, 1895),La Cathédrale (1898) undL’Oblat (= der Laienbruder, 1903). InLà-bas beschreibt Huysmans den von ihm intensiv erforschten religiösenRosenkreuzer-Untergrund. Die Handlung des Romans gipfelt in der detaillierten Schilderung einer orgiastischenschwarzen Messe. Huysmans, der zutiefst vomSatanismus fasziniert war, ließ sich durch die Werke vielerOkkultisten,Spiritisten undSchwarzmagier inspirieren, die ihn teils persönlich „ins dunkle Reich ,dort unten‘, wo der Teufel in obszönen und blutrünstigen Messfeiern verehrt wird“, führten.[2] Wenig später zog sich Huysmans in ein PariserBenediktinerkloster zurück, in dem er nach langem Leiden einem Krebs im Unterkiefer erlag. Fast schon postum erschien 1906 sein letztes Buch, das frommeLes Foules de Lourdes (= Die Volksmengen von Lourdes).
Der Erfolg vonA rebours hatte sich eher auf ein intellektuelles Publikum beschränkt.Là-bas dagegen war ein Bestseller. Huysmans’ größter Verkaufserfolg mit ca. 40 Auflagen in 20 Jahren wurdeLa Cathédrale, dessen Handlung in derKathedrale von Chartres und in ihrem Umkreis spielt. Heute ist dieser Roman im Vergleich zuLà-bas und vor allemA rebours kaum mehr bekannt.
ImHaffmans-Verlag beiZweitausendeins erschien 2007 eine Neuübersetzung vonGegen den Strich durchCaroline Vollmann unter dem TitelGegen alle.[3] Auch die meisten anderen Romane Huysmans’ sind in neueren Übersetzungen bzw. Ausgaben verfügbar.
In seinem am 7. Januar 2015 erschienenen RomanSoumission antizipiertMichel Houellebecq die Herausgabe der Werke Huysmans in der renommiertenBibliothèque de la Pléiade – fiktiv editiert unter der Leitung des Protagonisten und Literaturprofessors François –, die realiter erst vier Jahre später, am 24. Oktober 2019, verwirklicht wurde. Die Romanfigur François, Verfasser einer umfangreichenDissertation über Huysmans’ Werk und dessen religiöse Wende, widmet dieser fiktiven Pléiade-Ausgabe zudem ein 40-seitiges Vorwort.
Deutsche Ausgabe:Tief unten. Übersetzt von Victor Henning Pfannkuche. Potsdam, Kiepenheuer 1921.
Deutsche Ausgabe:Tief unten. Übersetzt von Victor Henning Pfannkuche. Harz, Berlin 1929.
1890:La Bièvre.
Deutsche Ausgabe:Die Bièvre – Elegie auf einen Fluss. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael und Susanne Farin. P. Kirchheim Verlag, München 1992,ISBN 3-87410-054-5.
1895:En route.
Deutsche Ausgabe:Vom Freidenkertum zum Katholizismus. 2. Ausg.: Franz Borgmeyer, Hildesheim 1914.
Deutsche Ausgabe:Unterwegs. Übersetzt von Michael von Kilisch-Horn. belleville, München 2019,ISBN 978-3-943157-92-5
Deutsche Ausgabe:Lourdes. Mystik und Massen, (aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Hartmut Sommer. Mit historischen S/W-Fotografien), Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2020,ISBN 978-3-940357-65-6 (Lilienfeldiana Bd. 23); E-Book:ISBN 978-3-940357-66-3.
Constanze Baethge:Subversion und Implosion. Die andere Moderne des Joris-Karl Huysmans. (Dissertation, Universität Osnabrück 2003).Online (PDF; 2,3 MB)
Wanda G. Klee:Leibhaftige Dekadenz. Studien zur Körperlichkeit in ausgewählten Werken von Joris-Karl Huysmans undOscar Wilde. Winter, Heidelberg 2001,ISBN 3-8253-1145-7 (zugl. Dissertation, Universität Marburg 2000).
Annika Lamer:Die Ästhetik des unschuldigen Auges. Merkmale impressionistischer Wahrnehmung in den Kunstkritiken vonÉmile Zola, Joris-Karl Huysmans undFélix Fénéon. Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg 2009,ISBN 978-3-8260-4017-7
Rita Thiele:Satanismus als Zeitkritik bei Joris-Karl Huysmans. Lang, Frankfurt/M. 1979,ISBN 3-8204-6386-0 (zugl. Dissertation, Universität Bonn 1979).
Joseph Jurt:Les Arts rivaux. Littérature et arts visuels d'Homère à Huysmans. Classiques Garnier, Paris 2018,ISBN 978-2-406-07981-1.