Er engagierte sich beim christlichen GewerkschaftsbundConfédération française des travailleurs chrétiens (CFTC). Delors avancierte zum Wirtschaftsexperten der CFTC, die ihn 1959 in denConseil économique et social nominierte. Er gehörte zum linken Flügel der Gewerkschaft (GruppeReconstruction) und befürwortete deren Dekonfessionalisierung und Umbenennung inConfédération française démocratique du travail (CFDT). Von 1962 bis 1969 arbeitete er beimCommissariat général du Plan. Von 1969 bis 1973 war er Generalsekretär des interministeriellen Ausschusses für berufliche Bildung und sozialen Aufstieg. Anschließend kehrte er zur Banque de France zurück, deren Generalrat er bis 1979 angehörte. Parallel unterrichtete er von 1974 bis 1979 als außerordentlicher Professor für Management an derUniversität Paris-Dauphine sowie als Dozent an der VerwaltungshochschuleÉcole nationale d’administration (ENA).[2]
Aus dem katholischen Milieu stammend, trat Delors gleich nach derBefreiung Frankreichs im Herbst 1944 dem christdemokratischenMouvement républicain populaire (MRP) bei, trat aber nach zwei Jahren wieder aus, weil es ihm zu konservativ erschien. Er war Anhänger derpersonalistischen Philosophie vonEmmanuel Mounier und schloss sich 1952 der christlich-linken BewegungVie nouvelle an. Im Jahr darauf wurde er Mitglied der vonMarc Sangnier gegründeten christlich-linken KleinparteiJeune République, deren Politbüro er ab 1956 angehörte. Nachdem er zunehmend sozialistische Überzeugungen vertrat, schloss er sich 1957 derUnion de la gauche socialiste (UGS) an. Diese ging 1960 in derParti socialiste unifié (PSU) auf, der Delors aber nicht beitrat. Stattdessen engagierte er sich in den 1960er-Jahren in verschiedenen sozialistischen Clubs.[1]
Nach der WahlFrançois Mitterrands zum Staatspräsidenten übernahm Delors im Mai 1981 das Amt des französischenWirtschafts- und Finanzministers imKabinett Mauroy. In dieser Zeit war er für ein kurzlebiges Experiment sozialistischer Wirtschaftspolitik in einer marktwirtschaftlichen Ordnung mittels Verstaatlichung von Banken und einigen Großunternehmen sowiekeynesianischer Konjunkturförderung verantwortlich. Nach mehrerenAbwertungen des französischen Francs und drohendem Ausscheiden aus demEuropäischen Währungssystem musste Delors jedoch ab März 1983 auf Anweisung des Präsidenten Mitterrand aufAusteritätspolitik umschwenken(tournant de la rigueur), um die Staatsausgaben zu senken und die Währung zu stabilisieren. Mit der Regierungsumbildung im Juli 1984 wurde er dann vonPierre Bérégovoy abgelöst. Von März 1983 bis Dezember 1984 war Delors außerdem Bürgermeister der StadtClichy, einem Vorort von Paris.
1989 sprach er sich – anders als viele skeptische Spitzenpolitiker in Frankreich – für diedeutsche Wiedervereinigung aus.[5]
Delors verzichtete auf einePräsidentschaftskandidatur 1995 zur Nachfolge François Mitterrands; er hatte als aussichtsreichster Kandidat des Parti socialiste gegolten.[6] Verbunden damit war sein Rückzug aus der französischen Tagespolitik.
Unter seiner Führung machte dieeuropäische Integration große Fortschritte. Seine Präsidentschaft beendete über ein Jahrzehnt desEuroskeptizismus und der Stagnation des Integrationsprozesses („Eurosklerose“). Delors hat die Gemeinschaft „aus einer tiefen Krise herausgeführt“ sowie „mit dem Binnenmarkt und der Währungsunion auf ein neues Gleis gesetzt“.[8] In seine Präsidentschaft fallen die ReformenEinheitliche Europäische Akte (EEA) 1986,Vertrag von Maastricht 1992 und Reform und Reorientierung von Kommission und Gemeinschaftspolitik (Delors-Paket) 1988.
Auf Initiative Delors’ veröffentlichte die Kommission ein Weißbuch (sog. Binnenmarkt-Fibel), in dem 300 (später reduziert auf 282) für die Verwirklichung des Binnenmarktes notwendige legislative Maßnahmen aufgeführt wurden. Dieses Programm geht auf das sogenannte Delors-Paket zurück, das der damalige Kommissionspräsident acht Tage nach seiner Amtsübernahme im Januar 1985 in Straßburg vor demEuropäischen Parlament im Rahmen seiner Antrittsrede vorstellte. Delors stellte zu Beginn in einem Satz die Frage: „Ist es vermessen, den Beschluss anzukündigen und dann auch durchzuführen, bis 1992 alle innergemeinschaftlichen Grenzen aufzuheben?“ Zu den vorgeschlagenen Maßnahmen zählten:
Wegfall der Personen- und Warenkontrollen an den EG-Binnengrenzen (z. B. Verlagerung der Kontrollen in die Produktion, die Vereinheitlichung des Veterinärrechts)
Gegenseitige Anerkennung zahlreicher Produktnormen und Lebensmittelstandards bzw. deren Harmonisierung
Beseitigung von steuerlichen Schranken, die durch unterschiedliche Mehrwert- und Verbrauchssteuern bestanden
EG-weite Öffnung der öffentlichen Beschaffungsmärkte (für staatliche Aufträge ab 10 Mio. DM)
Weitreichende Marktöffnungen und -liberalisierungen (z. B. Versicherungs- und Transportgewerbe)
Das Weißbuch enthielt einen Zeitplan und nannte als Enddatum für die Vollendung des Binnenmarktes den 31. Dezember 1992. Dieses Programm wurde mit dem „magischen Datum“ 1992 auf demMailänder Gipfel (Mitte 1985[9]) vom Rat der damals noch aus zehn Mitgliedsstaaten bestehenden Gemeinschaft gebilligt.
Einheitliche Europäische Akte, Rechtsangleichung, Delors-Bericht und Vertrag von Maastricht
Mit der Verabschiedung derEinheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1986 wurden dieRömischen Verträge erstmals nachhaltig reformiert und die Grundlagen für die Vollendung desBinnenmarktes gelegt.[10] Die von Delors angeführte Kommission führte parallel zur EEA-Vertragsreform das Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes mittels eines großen europäischen Rechtssetzungsprozesses mit anschließend mitgliedstaatlicher Umsetzung aus. Bis Ende 1992 war der größte Teil dieser Kommissions-Vorschläge verabschiedet. Die Umsetzung der 282 Vorschläge mittelsRichtlinien wurde durch die am 1. Juli 1987 in Kraft getretene EEA-Vertragsreform, mit der die qualifizierte Mehrheit[11] für diesen Politikbereich eingeführt wurde, nachhaltig unterstützt. Diese Binnenmarktanstrengungen entfachten eine neue Dynamik innerhalb der EG, was bis heute das Bild der Tat- und Entschlusskraft Delors als einer der herausragenden Kommissionspräsidenten zeichnet. Unter Delors gewann die Kommission „neue Autorität“.[12]
Im Juni 1989 legte Delors einen Drei-Stufen-Plan – ohne Zeitvorgaben – zur Errichtung derWirtschafts- und Währungsunion vor.[13] Dem war der Auftrag („konkrete Etappen zur Verwirklichung dieser Union zu prüfen und vorzuschlagen“) einer Sachverständigengruppe unter Vorsitz Delors’ als Kommissionspräsident durch den Europäischen Rat im Juni 1988 vorausgegangen. Die Initiative geht auf Delors zurück. Auf der Grundlage des Delors-Berichts beschloss der Europäische Rat in Madrid 1989 das Inkrafttreten der ersten Stufe der Währungsunion zum 1. Juli 1990. Der Bericht wurde später zur Grundlage der Ausgestaltung der WWU imVertrag von Maastricht[14], der auch konkrete zeitliche Festlegungen für die einzelnen Stufen traf. Delors’ Vorschläge einer vertieften Integration hin zu einem europäischen Bundesstaat veranlassten im Oktober 1990 die britische PremierministerinMargaret Thatcher zu ihrerNo, no, no-Rede.[15]
1992 folgte nach dem Zusammenbruch desOstblocks in einer veränderten Lage Europas der nächste große europäische Vertrag unter Delors’ Kommissionspräsidentschaft, derVertrag von Maastricht.
Delors heiratete 1948 Marie Lephaille (1923–2020). Er ist der Vater der PolitikerinMartine Aubry und des Journalisten Jean-Paul Delors. Er verstarb am 27. Dezember 2023 im Alter von 98 Jahren in Paris.[16][17]
Delors sei bereits zu Lebzeiten „zu einer mythischen Figur der EU-Geschichte geworden“, schreibt der EU-HistorikerChristoph Driessen.[19] Dabei gerate mitunter aus dem Blick, wie sehr Delors auch als Kommissionspräsident von seinem Heimatland Frankreich beeinflusst gewesen sei. „Bewusst oder unbewusst versuchte er, die zentralstaatliche Tradition Frankreichs auf die europäische Ebene zu übertragen.“ Gerade weil er damit so erfolgreich gewesen sei, sei er zunehmend in Konflikt mit dem französischen PräsidentenFrancois Mitterrand geraten, dem die Ambitionen von Delors zur Einschränkung der Macht der Nationalstaaten zu weit gegangen seien. Deshalb sei Delors’ zweite Amtszeit auch nicht mehr so erfolgreich gewesen wie die erste.[20]
↑Art. 14 Abs. 1 EG (Nizza/Amsterdam) [ex Art. 7a EG, Maastricht]: „Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Massnahmen, um bis zum 31. Dezember 1992 gemäß dem vorliegenden Artikel … den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen.“
↑Art. 95 EG (Amsterdam/Nizza), ex Art. 189 EG (Maastricht), seit VvL (1. Dezember 2009) Art. 114 AEUV.
↑Hans-Jürgen Wagener, Thomas Eger, Heiko Fritz:Europäische Integration, Recht und Ökonomie, Geschichte und Politik. Vahlen, München 2006, S. 84, 192f.
↑Hans-Jürgen Wagener,Thomas Eger, Heiko Fritz:Europäische Integration: Recht und Ökonomie, Geschichte und Politik. Vahlen, München 2006, S. 84.
↑Art. 105–124 EG a.F., jetzt (seit 1. Dezember 2009 durch VvL) Art. 127–133 AEUV.