Investigativer Journalismus (vonlateinischinvestigare ‚aufspüren‘, ‚genauestens untersuchen‘) setzt eine langwierige, genaue und umfassendeRecherche vor Veröffentlichung voraus. Themenschwerpunkte sind in der Öffentlichkeit alsskandalträchtig angesehene Vorgänge ausPolitik oderWirtschaft.
Viele dieserReporter erfüllen als sogenannteVierte Gewalt im Staat eine wichtige Funktion bei der Kontrolle derStaatsorgane und Wirtschaftskonzerne in Demokratien (siehe auchChecks and Balances).
Als Quellen verwenden investigative Journalisten häufigWhistleblower. Dies sind Personen, die in den untersuchten Institutionen beschäftigt sind und geschützte oder geheime Informationen an die Presse geben, oft unter Inkaufnahme persönlicher Risiken. Im Internet helfenEnthüllungsplattformen wieWikiLeaks, die Anonymität der Whistleblower zu wahren. Zahlreiche von investigativen Journalisten aufgedeckte Skandale konnten nur durch derart gewonnene Informationen erkannt werden, etwa dieWatergate-Affäre oder der Datenschutzskandal um die SpionageprogrammePRISM undTempora.
Gegenstand dieser aufwändigen und hohen Ansprüche an das Können und Durchhaltevermögen stellenden Form der Berichterstattung sind meistskandalöse Vorfälle oder Demokratie gefährdendes Fehlverhalten leitender Personen aus Politik und Wirtschaft. Eine Hochphase erlebte der investigative Journalismus in den 1970er Jahren in denUSA, als Reporter großer Zeitungen eine Reihe von politischen Skandalen aufdeckten (z. B. die Watergate-Affäre, infolge dererUS-PräsidentRichard Nixon im August 1974 zurücktrat).
Mit der Frage, ob die klassische Funktion der Besten unter den Journalisten in den USA noch bestehe und Zukunft habe, befasste sich ein umfangreicher Essay desNew York Review of Books vom August 2007 unter Berücksichtigung derPlame-Affäre.[1]
In derBundesrepublik deckteHans Leyendecker, Mitarbeiter des NachrichtenmagazinsSpiegel, später derSüddeutschen Zeitung, dieFlick-Affäre und dieCDU-Schwarzgeldaffäre auf. Weitere Beispiele sind dieKießling-Affäre, aufgedeckt vonUdo Röbel, und dieBarschel-Affäre, aufgedeckt vomSpiegel. Mit dem Berliner „Filz“ beschäftigte sichMathew D. Rose (Berlin, Hauptstadt von Filz und Korruption, 1997, undEine ehrenwerte Gesellschaft, 2003). Von dem Frankfurter Publizisten undOrganisierte-Kriminalität-SachkundigenJürgen Roth kam 2004 mitErmitteln verboten! ein Reportage-Buch über die Grenzen polizeilicher Ermittlungsbemühungen heraus. Im Jahr 2006 nahm sein BuchDer Deutschland-Clan die Abhängigkeiten zwischen hochrangigen Politikern, führenden Managern und Justizbeamten ins Visier.
Sonderformen des recherchierendenUndercover-Journalismus sind die Veröffentlichungen vonLeo Lania,Gerhard Kromschröder,Paula Schlier undGünter Wallraff.
Leo Lania verschaffte sich 1923 in der Tarnung eines italienischen Faschisten Zugang zuAdolf Hitler und demVölkischen Beobachter und dokumentierte seine Erfahrungen mit der frühen Nazi-Bewegung in dem BuchDer Hitler-Ludendorff-Prozess (1926).[2][3] (In seinem BuchDie Totengräber Deutschlands (1924) wird die Episode nicht erwähnt.)Paula Schlier, die zu jener Zeit bereits Artikel gegen den Nationalsozialismus veröffentlicht hatte,[4] verbrachte alsStenotypistin im Herbst 1923 drei Monate in der Redaktion desVölkischen Beobachters und dokumentierte ihre Erfahrungen, darunter auch denHitlerputsch, im KapitelIn der Redaktion der Patrioten in ihrem BuchPetras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit (1926).[5] Wallraff nahmpseudonyme Identitäten an, um skandalöse Verhältnisse aufzuklären. Seine Reportagen über das Innenleben derBild-Zeitung und die Arbeitssituation von Arbeitern mitMigrationshintergrund(Ganz unten) in Deutschland lösten breite gesellschaftliche Debatten aus.
Weitere deutschsprachige Recherche-Journalisten:
- Klaus Bednarz, langjähriger Leiter des Polit-MagazinsMonitor
- Jürgen Bertram mit seinem politischen BuchMattscheibe – Das Ende der Fernsehkultur über Schleichwerbung
- Ulrich Chaussy, jahrzehntelange Recherchen zumOktoberfestattentat von 1980
- John Goetz, Beiträge insbesondere zurCDU-Spendenaffäre und über die rechtsextreme TerrorzelleNationalsozialistischer Untergrund (NSU)
- Ulrike Holler, Frankfurter Hörfunk-Journalistin, die jahrzehntelangSozialberichterstattung (Kinder, Arme,Asyl, Abschiebung) recherchierte und im Hessischen Rundfunk publizierte
- Ernst Klee wies seit den 1980er Jahren in aufwendigen Recherchen mehrfach nach, wieNS-vorbelastete Persönlichkeiten nach Kriegsende mit Hilfe vonPersilscheinen und beschönigenden Lebensläufen in der jungen Bundesrepublik wieder zu Ehren kamen
- Hans Leyendecker, Mitautor vonExporteure des Todes. Deutscher Rüstungsskandal in Nahost (1990) undMafia im Staat. Deutschland fällt unter die Räuber (1992)
- Udo Ludwig, Spezialist im BereichDoping
- Gert Monheim, gründete die politische Dokumentationsreihedie story
- Friedrich Mülln, gründete den VereinSoko Tierschutz, Themenschwerpunkte der Recherchen sind in der Öffentlichkeit als skandalträchtig angesehene Vorgänge aus der Landwirtschaft, Tierhaltung und Forschung an Versuchstieren in Universitäten, Forschungseinrichtungen und Pharmaunternehmen.
- Bastian Obermayer, als Mitglied und Co-Autor desPanama-Papers-Teams des Internationalen Netzwerks investigativer Journalisten (Pulitzer-Preis 2017)
- Richard Rickelmann, Mitautor vonExporteure des Todes. Deutscher Rüstungsskandal in Nahost (1990) undMafia im Staat. Deutschland fällt unter die Räuber (1992)
- Sabine Rückert,Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen (2007)
- Hubert Seipel, Beiträge zurVW-Korruptionsaffäre
- Correctiv (Kollektiv), veröffentlichte dieCumEx-Files. Die inzwischen umstrittenen Recherchen zuGeheimplan für Deutschland [6][7] lösten bundesweite Massenkundgebungen aus.[8]
Eines der ersten investigativ-Politmagazine im deutschen Fernsehen war das erstmals am 4. Juni 1961 ausgestrahlte MagazinPanorama, dem weitere folgten und die zunächst zurHauptsendezeit gesendet wurden.
Seit dem Jahr 2014 ist derRechercheverbund NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung investigativ tätig.
Zudem entdeckt dasPrivatfernsehen mittlerweile den investigativen Journalismus alsQuotenbringer, beispielsweiseRTL Television mit seinem FormatTeam Wallraff,Peter Giesel mitAchtung Abzocke oder dem im Herbst 2023 gestarteten crossmedialen Formatstern Investigativ [9] (gemeinsam mit demstern).
Ein bekannter wie erfolgreicher Investigativ-Journalist im frühen 20. Jahrhundert war der WienerMax Winter, der mit seinen Reportagen unter anderem eine Reform der Militärgerichtsbarkeit in derÖsterreichisch-Ungarischen Monarchie erzwang und zahlreiche soziale Missstände aufdeckte, um Verbesserungen zu fordern. DerPrager JournalistEgon Erwin Kisch machte 1913 die Spionageaffäre umOberst Redl publik.
Ab den 1970er Jahren entwickelte sich in Österreich eine intensive Medienlandschaft im Bereich des investigativen Journalismus. Besonders das vonGünther Nenning undGerhard Oberschlick herausgegebeneFORVM Magazin ließ international aufhorchen.Hans Pretterebner, der Aufklärer des FallLucona, brachte mit seinem TOP Magazin ebenso einige Jahre ein investigatives Magazin auf den Markt, wieWolfgang Purtscheller mit investigativen Büchern aufhorchen ließ.
Aus der jüngeren Geschichte ist etwaAlfred Worm zu nennen, der unter anderem denAKH-Skandal, eine Schmiergeldaffäre imAllgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, Ende der 1970er Jahre aufdeckte.Kurt Kuch brachte unter anderem Details und Hintergründe zur CausaHypo Alpe Adria, zurTelekom-Affäre,BUWOG-Affäre undEurofighter-Affäre ans Tageslicht. 2013 veröffentlichte er aus denOffshore-Leaks-Datensätzen Informationen überBriefkastenfirmen vonHerbert Stepic, der bald darauf von seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender derRaiffeisen International zurücktrat.Florian Klenk gilt unter anderem in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Menschenhandel oder Missstände im Justiz- und Polizeiapparat als Aufdecker.Ashwien Sankholkar beschäftigte sich als Wirtschaftsjournalist des MagazinsFormat mit einigen politischen und wirtschaftlichen Skandalfälle in Österreich, wie etwa jene um den ehemaligen FinanzministerKarl-Heinz Grasser sowie um Vorkommnisse rund um die BUWOG-Affäre.Michael Nikbakhsh wurde 2008 für seine Enthüllungen im Rahmen der sogenanntenMeinl-Affäre zumJournalisten des Jahres gewählt.[10]
Der ausGraz stammendeInformationstechniker, Investigativ-Journalist undBuzzFeed-MitarbeiterChristo Buschek wurde im Juni 2021 gemeinsam mitMegha Rajagopalan undAlison Killing für die aufBuzzFeed News am 27. August 2020 veröffentlichte, vierteiligeReportageBuilt to Last [11][12] über die Aufdeckung der von denchinesischen Behörden betriebenen, bis zu diesem Zeitpunkt großteils nicht lokalisierbar gewesenenUiguren-Camps in der UigurischenAutonomen RegionXinjiang mit demPulitzer-Preis 2021 in der KategorieInternational Reporting ausgezeichnet.[13][14] Er ist damit der erste Österreicher, dem der seit 1917 vergebenePulitzer-Preis verliehen wurde.[15]
Einschweizerischer Investigativ-Journalist warNiklaus Meienberg, der mit seinen Veröffentlichungen maßgeblich zur öffentlichen Diskussion nicht nur über die Rolle der Schweiz imZweiten Weltkrieg beitrug. Die SendungRundschau des Schweizer Fernsehens wurde verschiedentlich investigativ genannt.[16]
Das bekannteste Beispiel ist die Aufdeckung derWatergate-Affäre durch die amerikanischen JournalistenBob Woodward undCarl Bernstein von derWashington Post. Ein weiterer bedeutender Fall war der Bericht vonSeymour Hersh über dasMassaker von Mỹ Lai 1968, bei dem amerikanische Soldaten über 500 Bewohner eines vietnamesischen Dorfes umgebracht hatten. Im Jahr 2004 brachte Hersh denFolterskandal um das Abu-Ghuraib-Gefängnis imIrak in die US-amerikanischen Medien.
Weitere bekannteMuckraker in den USA:
Die MenschenrechtsorganisationHuman Rights Watch bezeichnet die NSA-Überwachung als Bedrohung für den investigativen Journalismus in den USA.Der Schnüffelwahn schade der Meinungs- und Pressefreiheit, klagt HRW. Uramerikanische Werte wie „Freiheit, Demokratie und eine offene, verantwortliche Regierung“ seien „schwer bedroht“ – durch die groß angelegten, staatlichen Überwachungsprogramme, gepaart mit verschärften, oft gnadenlosen Maßnahmen zur Geheimhaltung regierungseigener Interna.[17][18][19]
Der bis 2013 größte bekanntgewordene Fall von monatelanger internationaler Zusammenarbeit investigativer Journalisten waren dieOffshore-Leaks, bei denen über 86 Journalisten von 38 Zeitungen sowie Hörfunk- und Fernsehstationen aus 46 Ländern beteiligt waren. Sie wurden vomInternational Consortium of Investigative Journalists koordiniert. Spätere Fälle waren dieLuxemburg-Leaks (2014),Swiss-Leaks (2015) sowie diePanama Papers (2016).
In Europa haben sich 2016 neun Medien zurEuropean Investigative Collaborations zusammengeschlossen.
- Zur Praxis des IJ
- Kritische Publikationen und Ländervergleiche
- Kristina Boriesson (Hrsg.):Zensor USA. Wie die amerikanische Presse zum Schweigen gebracht wird. Pendo, Zürich 2004,ISBN 3-85842-577-X.
- Wolfgang Janisch:Investigativer Journalismus undPressefreiheit : ein Vergleich des deutschen und amerikanischen Rechts. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1998,ISBN 3-7890-5316-3 (167 Seiten; zugl.: Dissertation Rechts- und Wirtschaftswiss. Univ. Mainz, 1997).
- Manfred Redelfs:Recherche mit Hindernissen: Investigativer Journalismus in Deutschland und den USA. In:Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.):Die Kommunikationsfreiheit der Gesellschaft. 2003, S. [208]–238.
- Alan Taylor:We, the media… Peter Lang, Frankfurt / New York 2005,ISBN 3-631-51852-8, S. 418.
- Lauren Lucia Seywald:Investigativer Journalismus in Österreich. Geschichte, Gegenwart und Zukunft einer Berichterstattungsform. Büchner-Verlag, Marburg 2020,ISBN 978-3-96317-193-2.
- ↑Russell Baker:Goodbye to Newspapers. In:The New York Review of Books, 18. August 2007.
- ↑Leo Lania:Der Hitler-Ludendorff-Prozess (= Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart.Band 9). Die Schmiede, Berlin 1926, KapitelBesuch bei Hitler,S. 12–21.
- ↑Zum Erscheinungsdatum vgl. Ursula A. Schneider, Annette Steinsiek:Am eigenen Leib. Nachwort. In: Ursula A. Schneider, Annette Steinsiek (Hrsg.):Paula Schlier: Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit. Otto Müller, Salzburg / Wien 2018,S. 150–196, hier S. 195, Fn. 7.
- ↑Paula Schlier: Artikel. In: Materialien online zu Paula Schlier: Petras Aufzeichnungen. Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit, Website Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Universität Innsbruck. Ursula A. Schneider, Annette Steinsiek, 2018, abgerufen am 10. Juni 2021.
- ↑Paula Schlier:In der Redaktion der Patrioten. Kapitel von Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit. Hrsg.: Ursula A. Schneider, Annette Steinsiek. Otto Müller, Salzburg / Wien 2018,S. 67–101.
- ↑Maximilian Bornmann: Geheimplan gegen Deutschland. In: correctiv.org. 10. Januar 2024, abgerufen am 12. Mai 2024.
- ↑Wie stichhaltig war der «Correctiv»-Beitrag über das «Geheimtreffen» in Potsdam? Ein Jahr später wachsen bei deutschen Medien Zweifel. In: NZZ. 10. Januar 2025, abgerufen am 1. März 2025.
- ↑Marc Felix Serrao:Verfassungsschutz weist Verwicklung in Bericht über «Geheimplan» zurück. In:Neue Zürcher Zeitung. 29. Januar 2024,ISSN 0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 12. Mai 2024]).
- ↑Neues crossmediales Format: „stern Investigativ“ ab 28. September bei RTL, STERN sowie als Podcast. 31. August 2023, abgerufen am 12. Mai 2024.
- ↑Der Journalist des Jahres 2008. In:Der Österreichische Journalist, Ausgabe 12/2008+01/2009. Abgerufen am 29. März 2015.
- ↑2021 Pulitzer Prizes Journalism. In: pulitzer.org. 2021, abgerufen am 16. Juni 2021. (englisch)
- ↑Megha Rajagopalan, Alison Killing, Christo Buschek: Built to Last. In: buzzfeednews.com. 27. August 2020, abgerufen am 16. Juni 2021 (englisch).
- ↑The 2021 Pulitzer Prize Winner in International Reporting. In: pulitzer.org. 2021, abgerufen am 16. Juni 2021 (englisch).
- ↑Grazer Christo Buschek erhielt Pulitzer-Preis. In: orf.at. 12. Juni 2021, abgerufen am 16. Juni 2021.
- ↑Armin Wolf: ZIB 2 am Sonntag: Grazer Buschek erhält Pulitzer-Preis. In: tvthek.orf.at. 13. Juni 2021, abgerufen am 16. Juni 2021 (ZIB-2-Beitrag ab Minute 15:30).
- ↑Publikumsrat beurteilt «Rundschau» als vertiefend und investigativ. Publikumsrat der SRG, 17. Mai 2016.
- ↑Marc Pitzke: Konsequenzen des NSA-Spitzelwahns: Das Ende der Pressefreiheit. In: Spiegel Online. 28. Juli 2014, abgerufen am 9. Juni 2018.
- ↑http://www.hrw.org/node/127364
- ↑Denver Nicks: Surveillance is Hurting Journalists and Defense Attorneys, Report Says | TIME. In: time.com. 28. Juli 2014, abgerufen am 11. Februar 2024 (englisch).