Hungersnot ist ein Phänomen, bei dem ein großer Anteil der Bevölkerung einer Region oder eines Landesunterernährt ist undTod durch Verhungern („Hungertod“) oder durch hungerbedingte Krankheiten in großem Maße zunimmt. Dies kann, muss aber nicht immer mit tatsächlicher Nahrungsknappheit einhergehen. Nicht selten führten Hungersnöte zuHungerrevolten.
Hunger war im Mittelalter so weit verbreitet, dass er nebenKrieg,Pestilenz undTod als einer der „vier Apokalyptischen Reiter“ galt. Bei derHungersnot von 1315–1317 starben in Europa mehrere Millionen Menschen. Die schwerste Hungersnot im 15. Jahrhundert in Europa fand1437 bis 1439/40 statt. InIndustrieländern kommen Hungersnöte heute praktisch nicht mehr vor, aber weiterhin inEntwicklungsländern. Den größten Teil des heutigenWelthungers machen allerdings nicht akute Hungersnöte aus, sondern der chronische Hunger armer Bevölkerungsschichten.
Mögliche Ursachen von Hungersnöten sindMissernten durch natürliche Faktoren wieUnwetter,Dürre,Schädlinge und sonstigeNaturkatastrophen bei unzureichenderVorratshaltung. Diese Faktoren können durch nicht-nachhaltige Wirtschaftsweisen verschärft werden, dieErosion undWüstenbildung fördern; umgekehrt können verbesserte Vorratshaltung und angepasste Landwirtschaftsmethoden die Anfälligkeit für Naturgefahren verringern.
Seit den 1970er Jahren werden neben natürlichen und ökonomischen Ursachen von Hungersnöten auch soziale und politische Gründe betrachtet und analysiert. Der WirtschaftswissenschaftlerAmartya Sen hat festgestellt, dass es in keiner funktionierendenDemokratie jemals zu einer Hungersnot gekommen sei. Hunger sei ein Problem der Nahrungsmittelverteilung und derArmut betroffener Bevölkerungsschichten, nicht unbedingt ein absoluter Mangel an Nahrung. Siehe dazu auch „Wie Ungleichheit Hunger schafft“.
Künstliche Hungersnöte entstehen durchKrieg oder verfehlte Politik oder werden absichtlich mitgenozidaler Absicht ausgelöst. So kann der Hunger in Fällen wie demGroßen Sprung nach vorn,Nordkorea in der Mitte der 1990er-Jahre oderSimbabwe seit 2000 im Wesentlichen als Resultat der Regierungspolitik angesehen werden. In anderen Fällen wie denBürgerkriegen inSomalia oderSudan war Hunger eine unvermeidliche Folge des Krieges oder absichtlich herbeigeführter Teil der Kriegsstrategie, wenn Nahrungsmittelverteilungssysteme unterbrochen und landwirtschaftliche Aktivitäten unmöglich gemacht werden. Humanitäre Hilfsmaßnahmen wie dieOperation Lifeline Sudan wurden teilweise von den Konfliktparteien vereinnahmt.
Wird Hunger absichtlich im Krieg oder als Werkzeug einer repressiven Regierung gegen eine unerwünschte Bevölkerungsgruppe eingesetzt, spricht man auch von „Hunger als Waffe“. Beispielsweise initiierte die sowjetische kommunistische Führung unterJosef Stalin während der 1930er-Jahre denHolodomor in derUkraine[5] und dieHungerkatastrophe in Kasachstan.[6] Der MilitärdiktatorGowon blockierte nach seiner Machtergreifung in Nigeria imBiafra-Krieg (Mitte 1967 bis Januar 1970) die Nahrungsmittelzufuhr der RegionBiafra, nachdem Biafra die Unabhängigkeit ausgerufen hatte.
Obwohl rechnerisch genügend Nahrungsmittel für die gesamte Weltbevölkerung vorhanden wären, gibt es auch im 21. Jahrhundert vor allem inAfrika nach wie vor Hungersnöte. Heute wird auf akute Hungersnöte meist mit internationalerNahrungsmittelhilfe reagiert. In den Jahren 2007 bis 2008 und erneut von 2010 bis 2011 stieg der weltweitePreisindex für Nahrungsmittel stark an. Preise fürGrundnahrungsmittel wieMais,Weizen undReis verteuerten sich auf das Doppelte und mehr. In einer Studie für die Welthungerhilfe äußertHans-Heinrich Bass die Ansicht, dass neben den Fundamentalfaktoren auch ein verändertes Verhalten der Finanzmarktinvestoren preistreibend wirke.[7][8] Diese Ansicht ist unter Wissenschaftlern allerdings heftig umstritten.[9][10]
DieWeltbank hielt 2008Hungerrevolten (ausgelöst durch die damals stark gestiegenen Lebensmittelpreise) in 33 Ländern für möglich.[11] InHaiti führten Unruhen zur Entlassung des MinisterpräsidentenAlexis.[12] Als Gründe für den Preisanstieg werden häufig genanntBevölkerungswachstum, Ernteverluste durch Dürren und Überschwemmungen offenbar infolge desKlimawandels, die Konkurrenz von Anbauflächen fürBiokraftstoffe undFuttermittel für die Fleischproduktion sowie ein wachsender Lebensmittel-Bedarf in Schwellenländern wieChina oderIndien.[11] Die Dekade 2000 bis 2010 war auch geprägt durch einen steigendenÖlpreis; Mitte 2008 erreichte er ein Allzeithoch von etwa 140 US-Dollar pro Barrel.
Bezeichnet Unterernährung über einen abgrenzbaren Zeitraum. Dieser tritt häufig in Zusammenhang mit Krisen (z. B. Dürren bedingt durchEl Niño), Kriegen und Katastrophen auf und betrifft oft Menschen, die bereits unter chronischem Hunger leiden. Knapp zehn Prozent aller Hungernden sind von akutem Hunger betroffen.
Chronischer Hunger
Bezeichnet einen Zustand dauerhafter Unterernährung. Obwohl die Medien meist nur über akute Hungerkrisen berichten, betrifft der chronische Hunger den weitaus größten Teil aller Hungernden. Sie haben zu wenig zu essen, meist auch kein sauberes Wasser oder Gesundheitsversorgung.
Hunger wird auch danach unterschieden, woran es bei der Ernährung konkret mangelt:
Energie- und Proteinmangel (Makronährstoffe)
Dabei wird jeden Tag weniger Nahrung aufgenommen, als der Körper braucht. Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO hat den Schwellenwert auf ca. 7,5 MJ (= 1.800 kcal) täglich festgelegt. Daraus errechnet sich die Zahl der 795 Millionen Hungernden. Dabei ist aber zu bedenken, dass gerade arme Menschen oft hart körperlich arbeiten müssen, und der Wert deshalb eigentlich höher liegen müsste.
„Verborgener“ Hunger
Aufgrund von Vitamin- und Mineralstoffmangel (Mikronährstoffe). Durch einseitiger Ernährung fehlen wichtige Nährstoffe wie Eisen, Jod, Zink oder Vitamin A. Die Folgen sind auf den ersten Blick nicht unbedingt sichtbar, doch insbesondere Kinder können sich geistig und körperlich nicht richtig entwickeln. Das Todesrisiko ist hoch. Weltweit leiden zwei Milliarden Menschen an „verborgenem Hunger“.[13]
Hunger ist auch im heutigenAfrika weit verbreitet.Klimaschwankungen,Dürren, Bodenunfruchtbarkeit,Erosion undHeuschreckenschwärme können zu Ernteausfällen führen. Weitere nachteilige Faktoren sind politische Instabilität, bewaffnete Konflikte, Bürgerkriege,Korruption, Misswirtschaft, Bevölkerungswachstum und eine internationale Handelspolitik, die die Vermarktung afrikanischer Landwirtschaftserzeugnisse behindert.AIDS hat langfristige ökonomische Effekte auf die Landwirtschaft (vor allem im südlichen Afrika), indem es die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung dezimiert.
Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass neben den natürlichen Ursachen der ausbleibendenNiederschläge oder Niederschlägen zur falschen Zeit undErosionsschäden vor allem der Mensch zu Hungersnöten beiträgt durch:
unterlassene Hilferufe und Gegenmaßnahmen,
allgemeine Kriegswirren,
fehlende Anreize zur Überschussproduktion (zu tiefe staatliche Aufkaufpreise),
Anhaltender schwerer Hunger kann dazu führen, dass man Ungenießbares isst (zum BeispielEicheln), dassNahrungstabus gebrochen werden (zum BeispielMenschenfleisch gegessen wird), dass die Hungernden Verfaultes, Verkeimtes oder anderes Ungeeignete essen (Seuchengefahr).
Hunger hat eine starke Auswirkung auf dieDemographie. Beispielsweise ist beobachtet worden, dass länger andauernde Hungerperioden zu einer Verringerung der Zahl der weiblichen Kinder führen können (siehe auchKindestötung). Demographen und Historiker debattieren die Ursachen dieser Tendenz. Einige glauben, dass Eltern absichtlich männliche Kinder bevorzugen (indem sie weibliche Kinder verkaufen oder nach der Geburt töten, sieheNeonatizid). Andere glauben, dass biologische Prozesse (Amenorrhoe) die Ursache sein können.
Von Hungersnöten Betroffene reagieren oft auf den Druck auf ihre Existenz, indem sie Dinge wie Vieh, Landbesitz oder Werkzeuge veräußern. Dies ermöglicht ihnen kurzfristig das Überleben, schwächt aber auf lange Sicht ihre wirtschaftliche Basis. In Äthiopien haben die meisten Familien, die von derHungersnot 1984–1985 betroffen waren, bis heute nicht das soziale und wirtschaftliche Niveau und die Produktionskapazität erreicht, die sie zuvor gehabt hatten[14].
Eine weitere Maßnahme gegen Nahrungsmittelknappheit ist der Verzicht auf Produktion und Konsum von tierischen Proteinen. So sind zur Bildung von einem Kilogramm tierischen Proteins etwa fünf bis zehn Kilogramm Pflanzeneiweiß erforderlich.[15] Der dänische ArztMikkel Hindhede riet während der Grippeepidemie im Winter 1917–1918, die bisher als Schweinefutter verwendeten Getreide und Kartoffeln direkt für menschliche Ernährung zu verwenden. Der Schweinebestand wurde auf ein Fünftel reduziert. Dadurch konnte eine Hungersnot (wie im ebenfalls betroffenen Deutschland, wo sogar noch mehr Nahrungsmittel zur Verfügung standen als in Dänemark) vermieden und die Sterblichkeit der Bevölkerung insgesamt um 17 Prozent auf den niedrigsten bisherigen Stand gesenkt werden.[16]
Hans-Heinrich Bass:Hungerkrisen in Preussen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Scripta Mercaturae Verlag, St. Katharinen 1991,ISBN 3-922661-90-4.
Christina Benninghaus (Hrsg.):Region in Aufruhr. Hungerkrise und Teuerungsproteste in der preußischen Provinz Sachsen und in Anhalt 1846/47. Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2000,ISBN 3-89812-015-5 (Studien zur Landesgeschichte 3).
Michael Bergstreser (Hrsg.):Globale Hungerkrise. Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung. VSA-Verlag, Hamburg 2009,ISBN 978-3-89965-383-0.
Mike Davis:Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter. Verlag Assoziation, Berlin u. a. 2004,ISBN 3-935936-11-7.
William Easterly:The elusive quest for growth. Economists' adventures and misadventures in the tropics. The MIT Press, Cambridge MA 2001,ISBN 0-262-05065-X.
Gunnar Heinsohn:Lexikon der Völkermorde. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998,ISBN 3-499-22338-4 (rororo. rororo-aktuell 22338).
Christian Jörg:Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts. Hiersemann, Stuttgart 2008,ISBN 978-3-7772-0800-8 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 55), (Zugleich: Trier, Univ., Diss., 2006).
Andrew G. Newby:Finland's Great Famine, 1856-68. Palgrave Macmillan, Cham, 2023,ISBN 978-3-031-19473-3.
Cormac Ó Gráda, Richard Paping, and Eric Vanhaute (Hrsg.):When the Potato failed. Causes and Effects of the Last European Subsistence Crisis, 1845-1850. Brepols Publishers, Turnhout 2007,ISBN 978-2-503-51985-2.
Guido Rüthemann (Hrsg.):Weltchronik der Katastrophen. Band 3:Gewalt, Macht, Hunger. Teil 1: Josef Nussbaumer, Guido Rüthemann:Schwere Hungerkatastrophen seit 1845. Studien-Verlag, Innsbruck u. a. 2003,ISBN 978-3-70-651558-0 (Geschichte & Ökonomie 13).
Amartya Sen:Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation. Reprint edition. Oxford University Press, Oxford u. a. 2007,ISBN 978-0-19-828463-5.
↑Renate Auchmann, Stefan Brönnimann, Florian Arfeuille:Tambora: das Jahr ohne Sommer;doi:10.1002/piuz.201401390
↑Annett Stein: Als das ganze Jahr Winter war. Historischer Vulkanausbruch. In: www.spiegel.de. Der Spiegel (online), 4. Januar 2016, abgerufen am 24. Februar 2023.