AlsGemeines Recht, lateinischius commune, wird heute im deutschsprachigen Raum vor allem dasrömisch-kanonische Recht desMittelalters, derFrühen Neuzeit und derNeuzeit bezeichnet, wie es ab dem frühen 12. Jahrhundert europaweit gelehrt wurde. Daneben hatten die eigenständig entwickelten Rechtstraditionen desgemeindeutschen Rechts, entstanden ausPartikularrechten, insbesondere den Einflüssen dessächsischen und desfränkischen Rechts, erhebliche Bedeutung. Als vierte Säule nahm dasNaturrecht (in seinen christlich-konfessionellen Ausprägungen und in der desVernunftrecht) Einfluss auf die europäische Rechtskultur.
Gemeines Recht war im Wesentlichen Recht ohne Gesetzgeber. Der romanistisch geprägte Einfluss auf das Gemeine Recht beruhte vornehmlich auftradierter Gewohnheit und auf der Praxis einer autonomen Rechtswissenschaft, die sich selbst Deutungshoheit zuschrieb. Gewichtig waren eineherrschende Meinung und derGerichtsgebrauch. Grundlage waren die Rechtstexte desCorpus iuris civilis in der Form, wie es durch dieGlossatoren, dieKonsiliatoren, diefranzösischen Humanisten und besonders in Deutschland während der Zeit desusus modernusrezipiert wurde. In der Weise wurde das Fundament für ein kontinentaleuropäischesZivilrecht geschaffen. Daneben hatten für das Gemeine Recht von Anfang an die autoritativen Rechtsbücher der katholischen Kirche Bedeutung (beispielsweise dasDecretum Gratiani), ergänzt um die päpstliche Rechtsgewalt im späterenCorpus Iuris Canonici. Die Gegensätzlichkeit aller Rechtsmassen führte zu einer fruchtbaren Rechtsfortbildung.
Ab Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich zunehmend Kritik an der Legitimationsgrundlage des Gemeinen Rechts, denn die schnell sich verändernden Lebensverhältnisse waren in der Fallentscheidung Autoritäten unterworfen, die darauf nicht reagieren konnten und häufig schon lange tot waren. 1806 büßte das Gemeine Recht seine Grundlage mit dem Untergang desHeiligen Römischen Reichs endgültig ein. Es drohte in eine Vielzahl kleinteiliger, allein territorial wirksamer Einzelrechte zu zerfallen. Dies unterstützten die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen westeuropäischen Naturrechtskodifikationen (dasprALR im Lichte der schnell folgendenReformen, derCC und dasABGB) noch, gleichwohl galt Gemeines Recht in Deutschland partikular noch bis zum Inkrafttreten desBürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 fort. Politisch war die Ablösung des Gemeinen Rechts disruptiv, denn der Geist der mittelalterlichen Universalkräfte Reich und Kirche wich denaufgeklärten AutoritätenSouveränität undDemokratie.
Eine Grundlage des Gemeinen Rechts war dasrömische Recht. Dasrömische Imperium hatte, insbesondere in seinerklassischen Zeit, ein hochentwickeltes Recht hervorgebracht. Vornehmlich überliefert wurde es mit denspätantiken KodizesJustinian I., der das bis dahin geschaffene Recht zusammentragen und modernisieren ließ, um es im später so genanntenCorpus iuris civilis (CIC) zu kompilieren.
Während der Zeit derVölkerwanderung gerieten wesentliche Teile des römischen Rechts in Vergessenheit. Mit dem Auffinden derLittera Florentina, der ältesten Handschrift derDigesten, begann ab dem 12. Jahrhundert eine Aufarbeitung und wissenschaftlicheKommentierung aller wiederentdeckten Handschriften. Von besonderer Bedeutung waren die Arbeiten des GlossatorsIrnerius daneben die der auf die Glossatoren folgendenKommentatoren. Jahrhundertelang studierten angehende Juristen in Europa nahezu ausschließlich römisches Recht. Römisches Recht wurdeallgemein (=gemein) gelehrt. Die insoweit ausgebildeten Juristen wurden beruflich in den verschiedensten Ämtern tätig, führten das römische Recht somit in die Rechtspraxis ein. Das hatte zur Folge, dass hergebrachtes Gewohnheitsrecht zurück und zunehmend verdrängt wurde. Dieser „Einsickerungsprozess“ des römischen Rechts in die gewohnheitsrechtlichen Gepflogenheiten der einheimischen Bevölkerungen, wird gemeinhin als Rezeption des römischen Rechts festgehalten. Vornehmlich darf er seiner Anspruchshaltung nach als Verwissenschaftlichungsprozess verstanden werden, primär sollte er Bildungsansprüchen genügen.[1]
Eigentümlich am Rezeptionsprozess war, dass fremdes Gedankengut übernommen und assimiliert wurde. Die Frührezeption begann im 12. Jahrhundert im Bereich der kirchlichen Gerichtsbarkeit in derUniversität Bologna und erfuhr ihren Höhepunkt im 15. und 16. Jahrhundert. An den französischen und italienischen Universitäten entwickelte sich als juristischer Bezugsrahmen der wissenschaftliche Lehranspruch desmos italicus. In Deutschland spiegelt sich die Entwicklung in derReichskammergerichtsordnung von 1495.[1] Dort waren die Richter angewiesen, nach „des Reiches gemainen Rechten“ zu richten, wenn einzelne Territorien keine besonderen Rechte aufwiesen.[2] Die Rezeption vollzog sich in ganz Kontinentaleuropa, also auch in territorialer Hinsichtallgemein.
Im 17. und 18. Jahrhundert kristallisierte sich dann eine eigenständige deutsche Gemeinrechtswissenschaft heraus. Einheimische Rechtsliteratur und Gewohnheitsrecht schmolzen in die rezipierten Inhalte des römischen Rechts ein. Das moderne Privatrecht war eine Anwendungsweise desPandektenrechts geworden, die Lesart war die desusus modernus pandectarum. Dieser leitete sich begrifflich aus denPandekten (lateinisch:Digesten) her, Bestandteil der justinianischen Gesetzgebung desCIC. Die bereits genannten Glossatoren und nach ihnen die Kommentatoren (überragende, vornehmlich handelsrechtlich ausgerichtete Vertreter waren:Bartolus undBaldus[2]) der früh- und mittelrezeptorischen Phase hatten insoweit den Nährboden und die Grundlagen der Durchdringung und Systematisierung der relevanten Rechtsgebiete bereitet: Abstraktion der Begrifflichkeiten, Definitionen der Rechtsbegriffe undlogische Unterscheidbarkeiten.[1]
Die zweite Grundlage des Gemeinen Rechtes war daskanonische Recht (= Recht der katholischen Kirche). Diekatholische Kirche hatte im Mittelalter und während der frühen Neuzeit eine weitreichende Gerichtsbarkeit. Dazu schuf sie sich ein umfangreiches eigenesKirchenrecht, das zusammengefasst wurde in der Sammlung desCorpus Iuris Canonici. Einige Teile des kanonischen Rechtes wurden aus dem römischen Recht abgeleitet. Die Hauptrechtsquellen des kanonischen Rechtes waren jedoch dieHeilige Schrift, die Schriften derKirchenväter undpäpstliche Dekretale. Dadurch unterschied sich das kanonische Recht in zentralen Punkten vom römischen Recht, ein Beispiel ist der Grundsatzpacta sunt servanda.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich das kanonische und das rezipierte römische Recht auseinander. Dies geschah insbesondere dadurch, dass das kanonische Recht durch Päpste weiterentwickelt wurde und in Gerichten angewandt wurde, während das römische Recht über viele Jahrhunderte oft rein akademischer Natur war.[3] Der Vorteil der kirchlichen Gerichte war zudem, dass ihre Urteile, im Gegensatz zu weltlichen Gerichten im gesamten Alten Reich vollstreckt wurden.[4] Dieses kanonische Recht wurde an allenUniversitäten Europas mit einer juristischenFakultät parallel zum römischen Recht gelehrt. Angehende Juristen konnten entweder kanonisches Recht oder römisches Recht oder beide Rechte studieren. Der Unterricht in beiden Rechtsgebieten erfolgte europaweit, somitallgemein.
Auch heute hat die katholische Kirche noch eine eigenständige Gerichtsbarkeit, jedoch sind ihre Kompetenzen deutlich eingegrenzt und beschränken sich auf kircheninterne Angelegenheiten sowie auf das Verhältnis von Kirchenmitgliedern zur Kirche (zum Beispiel bei derAnnullierung einer gescheiterten Ehe, um nach der Scheidung eine kirchliche Wiederverheiratung zu ermöglichen).
Den systematischen Gegenspieler zum allgemein gültigengemeinen Recht bildete dasörtliche Gewohnheitsrecht. Anders als das römische Recht und anders als das kanonische Recht, war es nicht schriftlich niedergelegt. Es entstand durch gelebte Rechtsüberzeugung (longa consuetudo;opinio necessitatis). Die unterschiedlichen und vielen Regionen in Europa unterhielten unterschiedliche und viele Gewohnheitsrechte. Ein einheitliches Gewohnheitsrecht gab es folglich nicht. Erschwerend kam hinzu, dass es je nach Lokalität gebunden, dem gemeinen römischen Recht grundsätzlich vorging. Gemeines Recht galtsubsidiär. In der Praxis kehrte sich dies oft um, denn die Geltung desdeutschrechtlichen Gewohnheitsrechts musste von demjenigen, der sich darauf berief, bewiesen werden. Unmöglich war das anhand eines schriftlichen Nachweises. Somit erwarb das gemeine römische Recht meist den Vorrang, da es nicht bewiesen werden musste.
Wie bereits dargestellt, wurde das gemeine Recht zunächst wissenschaftlich an den Universitäten gelehrt. Die Kirche wandte das kanonische Recht schon immer an. Im weltlichen Bereich hingegen wurde jahrhundertelang Gewohnheitsrecht angewandt (und nicht das in den Universitäten gelehrte gemeine Recht). Erst in einem Jahrhunderte andauernden Prozess gelang es den studierten Juristen, das gemeine Recht in die Rechtspraxis zu tragen. Ein Meilenstein hierfür war das 1495 geschaffeneReichskammergericht, das damals höchste Gericht imHeiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Es hatte seine Urteile grundsätzlich nach gemeinem Recht (dem römisch-kanonischen) zu fällen und bestenfalls in Ausnahmefällen aufgrund der Grundsätze der Rechtsgewohnheit, bei dem Beweismittel von den Prozessparteien vorzubringen waren. Bei diesem Gericht drang das gemeine Recht schleichend in die Rechtspraxis ein. In einigen Teilen Europas, wieItalien und Südfrankreich, geschah dies früher, in anderen wiederum später, so in Deutschland. Länder wieEngland verweigerten sich einerRezeption und entwickelten stattdessen einheimisches Recht weiter.[2] Ab etwa dem 16. Jahrhundert hatte das gemeine Recht das Gerichtsprozesswesen Europas im Wesentlichen durchdrungen, abgesehen insoweit vom englischenCommon Law.
Ab dem 16. Jahrhundert entstanden Gegentendenzen. Die lokalen Rechtsgewohnheiten wurden wieder verstärkt in den Blick genommen und es wurde versucht sie mit dem gemeinen Recht in Einklang zu bringen. Als die hinterlassenen Arbeiten der (Post-)Glossatoren zumCorpus iuris civilis und dieser selbst der wissenschaftlichen Überarbeitung unterzogen wurden, entwickelten sich unterschiedliche Neigungen. Die Franzosen prägten dasius commune in der ihnen eigenen Weise als römisch-französisches Gemeinrecht, holländisches Gemeinrecht bekam seine eigene Note und auch die anderen Regionen entwickelten Spezifitäten. Eine dominante Stellung nahm dasius romano-germanicum imRechtssystem ein, das römisch-deutsche Recht. Innerhalb der unterschiedlichen Prägungen herrschte der Grundbestand des gemeinen Rechts vor.
In der Folgezeit zersplitterte das gemeine Recht zusehends, befördert durch den einziehendenCartesianismus. Vornehmlich während des 18. und 19. Jahrhunderts unterzogen Rechtsgelehrte die bestehenden Regeln einer grundlegenden Revision im Geiste derAufklärung. Neue Maximen erforderten ein Umdenken. Einen gemeinsamen operativen Nenner fand man im rationalistischen Naturrecht. Die Regelwerke wurden demVernunftdenken unterworfen. Erste Repräsentanten desVernunftrechts waren allen voranHugo Grotius,Samuel von Pufendorf undChristian Wolff. Sie reflektierten über rechtsphilosophische und rechtssystematische Ansätze und säkularisierten die Grundlagen. Jedoch bedeutete dies keine absolute Abkehr vom christlichen Gottesgedanken. So beschrieb Grotius, dass die Vernunft eine Konsequenz aus Gottes Existenz ist.[5] Ebenso existierten neben diesen vernunftrechtlichen Ansätzen die Entwicklungen derSchule von Salamanca, die insbesondere für die katholischen Gebiete relevant wurden. Insbesondere ihre Ausführungen zum katholischen Naturrecht, dem Völkerrecht und dem Handel beeinflussten das gemeine Recht.
Einen ebenso wirksamen Einfluss übten die Arbeiten derHistorischen Rechtsschule aus.[6] Lebhaft wurde die Notwendigkeit der Schaffungpositiven Rechts diskutiert. Dies führte dazu, dass einzelne LänderKodifikationen schufen, die die Besonderheit aufwiesen, dass sie jeweils eine nationale Dimension (ius patrium) ausmachte (Territorialisierung des Rechts). Das supranationale Gemeinschaftsrecht baute noch auf den alten logischen Grundlagen auf („so steht es im CIC!“), zunehmend weniger wurde diese Begründungsstruktur allerdings anerkannt. Gleichwohl wurden die gemeinrechtlichen Grundlagen noch vermittelt, so etwa vom DeutschenJohann Gottlieb Heineccius. An den Universitäten wurde das nationale Recht anfänglich noch widerstrebend gelehrt, was sich allerdings legte.[7]
Parallel zu den Entwicklungen entstanden bedeutendenaturrechtliche Gesetzbücher. Sie waren teils mehr, teils weniger vom überkommenen (rezipierten) römischen Recht getragen. Als bedeutendstes Werk wird in der Rechtsgeschichte der französischeCode civil aus dem Jahr 1804 hervorgehoben. Der Code wird als modernstes Gesetzbuch der Zeit betrachtet, weil er dierevolutionären Gesellschaftsformate verinnerlichte, so insbesondere den wirtschaftlich durchgreifendenLiberalismus. Beachtung fand auch der hohe juristische Abstraktionsgrad bei den Gesetzesformulierungen (in Abkehr zur früherenkasuistischen Methodik). Bereits 1794 war daspreußische Landrecht (ALR) entstanden. Sprachlich noch behäbig undrestauratorisch geprägt, interpretierte dasständische Landrecht gleichwohl Züge des auflebenden Geistes des aufgeklärten Vernunftrechts. Moderner erwies sich die österreichische Kodifikation desAllgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) aus dem Jahr 1811. Als späte Geburt dieser Entwicklung ist noch das deutscheBürgerliche Gesetzbuch (BGB) zu nennen.[8]
Nachdem dasius commune durch die Bindung an nationale Gesetzbücher als „übernationales Recht“ verloren gegangen („entpositiviert“[9] worden) war, etablierte sich ab den 1820er Jahren – vornehmlich von Deutschland, Frankreich und Belgien ausgehend – eine neue Disziplin, dievergleichende Rechtswissenschaft. Es galt nunmehr ausländische Rechte zu studieren, der erweiterte Rechtsunterricht wurde zunehmend in die Studienprogramme aufgenommen.[10][11]
Heute gibt es nur noch wenige Gebiete, wo das gemeine Recht in Geltung ist. Als die letzten Gebiete lassen sich vielleichtAndorra,San Marino und (allerdings mit großen Vorbehalten) dierömisch-holländischenMischrechtsordnungen (vgl.Südafrika,Sri Lanka) nennen. In den Letzten kam das gemeine Recht durchniederländische Entdecker undKolonialherren nach Südafrika. Später verdrängteGroßbritannien die Holländer und setzte teils ihrCommon Law in Kraft, das das römisch-holländische Recht (afrik.Romeins-Hollandse reg,engl.Roman-Dutch law) überlagerte und veränderte. Heute besteht in Südafrika ein Mischsystem aus gemeinem Recht und Common Law, wobei das Common Law das gemeine Recht überlagert.
Seit 1979 wird die gemeinsame Tradition desius commune in Kontinentaleuropa als eine mögliche Grundlage für einEuropäisches Privatrecht diskutiert.[12]
DasCommon Law, das Recht desangloamerikanischen Rechtskreises, kann ebenfalls wörtlich als „gemeines Recht“ übersetzt werden, da das englischecommon auf das altfranzösische/lateinischecommune zurückgeht, welchem das deutschegemein etymologisch und in seiner Bedeutung entspricht. Das Common Law ist jedoch ein separates Rechtssystem, das sich weitgehend unabhängig von dem römisch-kanonisch geprägten gemeinen Recht Kontinentaleuropas entwickelte und nicht mit diesem zu verwechseln ist. Die Bezeichnung „gemeines Recht“ für Common Law ist daher auch eine Fehlübersetzung und ungebräuchlich; stattdessen wird dieses Rechtssystem auch im Deutschen überwiegend als „Common Law“ bezeichnet.