Astor Piazzolla, das einzige Kind von Vicente Piazzolla (den Astor „Nonino“ nannte), ausTrani in Italien, und Assunta Mainetti (aus der italienischenProvinz Massa-Carrara), war vier Jahre alt, als seine Familie wegen der schlechten Wirtschaftslage in Argentinien nachNew York auswanderte, wo sich sein Vater inGreenwich Village einen Friseursalon einrichtete. Die musikalische Begabung des jungen Astor wurde früh erkannt. Neben Klavier lernte er auch, seinem Vater zuliebe, Bandoneon (der Vater hatte ihm 1929 ein Instrument geschenkt). Über die Tangobegeisterung des Vaters sagte Piazzolla:Mein Vater hörte ständig Tango und dachte wehmütig an Buenos Aires zurück, an seine Familie, seine Freunde – […] immer nur Tango, Tango.[1] Piazzolla selber begeisterte sich für Jazz und die MusikJohann Sebastian Bachs. Auch die Begegnungen des Neunjährigen mit der TangolegendeCarlos Gardel, einem Freund der Familie, änderte diese Prioritäten nicht. (Allerdings spielte Piazzolla in dem in den USA gedrehten FilmEl día en que me quieras 1935 neben Gardel eine kleine Rolle als Zeitungsjunge.)
1937 kehrte die Familie nach Buenos Aires zurück, wo eine Aufführung des Tango-Ensembles vonElvino Vardaro zu einem Schlüsselerlebnis für Piazzolla wurde: Hier erlebte er erstmals eine neuartige Tango-Interpretation, die ihn begeisterte. Er übte nun vermehrt und perfektionierte sein Bandoneonspiel.
1939 wurde er Mitglied des Orchesters vonAníbal Troilo, für das er auch Stücke arrangierte. Eine Begegnung mit dem von ihm sehr geschätzten PianistenArtur Rubinstein bestärkte Piazzolla im Wunsch, einen akademischen Weg zu gehen. Ab 1940 nahm Piazzolla daher Kompositionsunterricht bei dem nur wenig älterenAlberto Ginastera, der bereits kurz nach Abschluss desKonservatoriums als musikalischer Hoffnungsträger der Nation galt und mit seinen ersten Ballett- und Instrumentalwerken für Aufsehen sorgte.
1944 verließ Piazzolla das Orchester von Troilo und arbeitete zunächst zwei Jahre lang als Solist und Arrangeur im Orchester vonFrancisco Fiorentino.
1946 gründete er sein erstes eigenes Orquesta Típica, das bis 1948 Bestand hatte. In dieser Zeit veröffentlichte er unter seinem Namen die ersten Schallplatten. 1949 löste sich dieses Ensemble wieder auf.
In der ersten Hälfte der 1950er Jahre komponierte Piazzolla einige Orchester- und Kammermusikwerke, es entstanden dieRapsodía porteña (1952), die preisgekrönte SinfonieBuenos Aires (1953) und dieSinfonietta (1954), für die er mit dem nationalen Kritikerpreis geehrt wurde. Von seinen frühen Tangos aus den 40er Jahren hingegen distanzierte er sich in der Öffentlichkeit, da er als Komponist ernst genommen werden wollte, was ihm mit Tango zu jener Zeit unmöglich schien. Zwar feierte in Europa, von Paris ausgehend, eine harmlos-tanzbare Tango-Variante Triumphe, doch in Argentinien hatte der Tango sehr lange einen schlechten Ruf, vor allem bei der Oberschicht.
1954 erhielt Piazzolla im Zusammenhang mit dem Preis für seineSinfonietta ein Stipendium für Europa und ging nachParis, um beiNadia Boulanger Komposition zu studieren. Beim ersten Vorspielen verschwieg er, dass er Tangos gespielt und komponiert hatte. Piazzolla erklärte seine Gründe so:In Wahrheit schämte ich mich, ihr zu sagen, dass ich Tangomusiker war, dass ich in Bordellen und Kabaretts von Buenos Aires gearbeitet hatte. Tangomusiker war ein schmutziges Wort im Argentinien meiner Jugend. Es war die Unterwelt.[1] Boulanger entdeckte beim Durchsehen von Piazzollas Partituren Einflüsse vonRavel,Strawinsky,Bartók undHindemith, vermisste jedoch eine individuelle Handschrift und bat Piazzolla, einen Tango auf dem Klavier zu spielen. Hinterher sagte sie Piazzolla deutlich die Meinung:Du Idiot! Merkst Du nicht, dass dies der echte Piazzolla ist, nicht jener andere? Du kannst die gesamte andere Musik fortschmeißen![1] Piazzolla nahm den Rat an, zusätzlich belegte er Dirigierkurse beiHermann Scherchen.
1955 kehrte Piazzolla nach Argentinien zurück. Er gründete dasOcteto Buenos Aires: zwei Bandoneons, zwei Violinen, ein Bass, Cello, Klavier und eine elektrische Gitarre. Mit diesem Ensemble begann die Neuinterpretation des Tangos: DerTango Nuevo.
1960 gründete er ein weiteres Ensemble, ein Quintett aus Violine, Gitarre, Klavier, Bass und Bandoneon. Anfänglich stießen seine Werke auf Kritik und Ablehnung, da sie sich vom ursprünglichen Tango stark unterschieden. Die Anfeindungen gingen so weit, dass Piazzolla und seine Familie sich in Buenos Aires mitunter kaum auf die Straße wagen konnten. Doch er arbeitete weiter und komponierte, konzertierte und erstellte Arrangements seiner Werke für unterschiedliche Besetzungen mit enormer Produktivität.
Im Laufe seines Lebens komponierte er über 300 Tangos und Musik für fast 50 Filme und spielte rund 40 Schallplatten ein. Dabei arbeitete er mit Literaten zusammen wieJorge Luis Borges undHoracio Ferrer, mit der SchauspielerinJeanne Moreau, mit dem RegisseurFernando Solanas und initiierte und leitete genreüberschreitende Projekte, unter anderem mit demKronos Quartet und mit Jazz-Musikern wieGary Burton oderGerry Mulligan. Außerdem schrieb er fürPina Bauschs Tanztheater die Musik zum BallettBandoneón. 1975 gründete er dasOcteto Electrónico, in dem auch sein Sohn Daniel mitspielte.
Während der argentinischenMilitärdiktatur (1976–1983) lebte Piazzolla inItalien, kehrte aber immer wieder nach Argentinien zurück. Insbesondere die Zeit von 1978 bis 1988 gilt als Höhepunkt seines Schaffens. In dieser Zeit arbeitete er mit seinem zweiten Quintett, in demPablo Ziegler (Klavier), Fernando Suarez Paz (Violine), Horacio Malvicino (Gitarre) und Hector Console (Kontrabass) mitwirkten.
Im August 1990 erlitt er in Paris einen Schlaganfall, der weiteres Komponieren unmöglich machte. Er starb zwei Jahre später in Buenos Aires.
Nicht nur Astors Sohn Daniel ist Musiker, auch dessen 1972 geborener Sohn, Daniel „Pipi“ Piazzolla. Astor Piazzollas Enkel widmet sich als Schlagzeuger ebenfalls dem Jazz und Tango, insbesondere mit seiner 1999 gegründeten Band Escalandrum.
Viele von Piazzollas Tangos sind nicht mehr im traditionellen Sinne tanzbar, sondern in erster Linie Musik zum Zuhören. DieHarmonie des Tango weitete er mit Mitteln des Jazz aus sowie nach den VorbildernIgor Strawinsky undBéla Bartók. Piazzolla hat die Spieltechnik der Instrumente im Tango durch Anleihen aus der Neuen Musik ausgeweitet: „Bogenschläge auf der Violine, stechende Streicherakzente in hoher Lage,Glissandi des gesamten Ensembles, virtuose Bandoneonläufe und eine Anreicherung der Besetzung durch eine Vielzahl von Perkussionsinstrumenten bestimmen seine Musik.“[1]
Trotz aller Neuerungen bleibt das Wesentliche des Tango erhalten, zum einen durch den spezifischen Klang des Bandoneons, zum anderen durch die typischensynkopischen Rhythmen, die typischen harmonischen Wendungen des Tango,Staccati und die generell melancholische Stimmung der Musik. „Piazzolla seziert die charakteristischen Elemente des Tango und stellt sie in einem neuen Licht dar. Hier betont dasakkordische Spiel des Ensembles obsessiv den Rhythmus, dort dominiert eine elegische Solopassage. Jähe Zäsuren sowie deutliche Brüche stehen anstelle derRubati des traditionellen Tangos und betonen deutlicher als diese dencorte, das charakteristische Innehalten des Paares zwischen den Schrittfolgen.“[1]
Die Essenz des Tangos erhält Piazzolla, verbindet sie aber mit der akademischen und bildungsbürgerlichen Tradition der klassischen Musik. Neben der eher traditionellen kleinen Form des Tangostücks erweiterte er die stilistische Bandbreite des Tangos mit den großen Formen der Musikgeschichte: Beispiele dafür sind das Musikalische Drama mit BallettLos amantes de Buenos Aires (1969) auf einLibretto des Tango-DichtersHoracio Ferrer (1933–2014), das OratoriumEl Pueblo Joven (1970) und das dreisätzige Konzert für Bandoneon, Streicher und Schlagzeug (1979).
Häufig verwendet Piazzolla die Form der barockenSuite, so etwa für das StückHistoire du Tango – hier gibt er den vier Sätzen programmatische Titel:Bordel 1900,Café 1930,Night Club 1960,Concert d’aujourd’hui. Im KonzertLas Cuatro Estaciones porteñas greift er direkt auf das Vorbild der KonzerteDie vier Jahreszeiten (Le quattro stagioni) vonAntonio Vivaldi zurück. Es ist nur konsequent, dass auch die Form der Oper von Piazzolla mit Tango verbunden wird, in der „Tango-Operita“María de Buenos Aires, in der er kompositorische Formen wieFuge undToccata verwendet und dasAgnus Dei zumTangus Dei verfremdet. Piazzolla hat den Tango jedoch nicht nur mit der akademischen Tradition, sondern auch mit der Unterhaltungsmusik und Popkultur verbunden. Seit den frühen 1970er Jahren arbeitete er oft mit Jazzmusikern zusammen und verwendete moderne Instrumente wie E-Bass, Schlagzeug, E-Gitarre und E-Piano in seinen Kompositionen.