Antwerpener Retabel (im allgemeinen Sprachgebrauch auchAntwerpener Altäre) ist die Sammelbezeichnung für eine Gattung desFlügelaltars, die besonders im ersten Drittel des16. Jahrhunderts in großem Stil inAntwerpener Werkstätten für den Export produziert wurde und aus einem bildhauerischen hölzernen Mittelteil mit einem oder mehreren meist gemalten Flügelpaaren besteht. AntwerpenerRetabel zeichnen sich in der Regel durch einen mittig überhöhten Schreinkasten und detailreiche schnitzerische Ausarbeitungen, aber auch durch gewisse Standardisierungen, etwa in den Maßen und in der häufigen Wiederholung bestimmter Figurengruppen, aus. Die gängige Bewertung als „Massenware“ wird jedoch dem Variantenreichtum nicht gerecht und muss heute neu hinterfragt werden. Vergleichbare Altaraufsätze als Exportstücke entstehen – neben anderen Kunst- und Luxusgütern – in den nahe gelegenen ProduktionszentrenBrüssel undMechelen. Noch heute sind über 200 Exemplare in Kirchen und Museen verschiedener europäischer Länder erhalten.
Zum Anfang des 16. Jahrhunderts hat AntwerpenVenedig als Handelsstadt im Norden Europas wirtschaftlich abgelöst. Die Anlage des Hafens ermöglichte dem über dieSchelde gut erreichbaren und vergleichsweise sicheren Handelsplatz einen raschen Aufschwung. Im Handel mitEngland undSkandinavien und als Standort eines Marktes für spanische und portugiesische Waren wurde Antwerpen wichtigster Hafen Westeuropas und gleichsam Nachfolger derHanse in der beginnenden Neuzeit. Diese Situation eines aufblühenden internationalen Marktes bedingte über kurz oder lang die Nachfrage nach Luxusgütern wieTapisserien, Gläsern, Stoffen oder Goldschmiedearbeiten, die im Tausch gegen importierte Gewürze, Getreide, Hering o. ä. exportiert wurden.
Im Unterschied zu Brüssel kannte Antwerpen für den großen Teil der sogenannten Bildenden Künstler keine strikte Trennung der Berufe in unterschiedlichen Gilden. Waren Maler und Bildhauer in Brüssel strikt getrennt organisiert, so vereinte die AntwerpenerSt.-Lukas-Gilde seit 1382 Maler, Bildhauer, Drucker, Glasmaler, Schreiner und später auch Schriftsetzer sowie andere spezialisierte Gewerke unter ihrem Dach. Erstmals ist im Jahr 1460 auf der Südseite des Immunitätsbezirks derLiebfrauenkathedrale derPand genannte Kunstmarkt während der Jahrmärkte belegt, auf dem in vermieteten Ständen die Künstler aller Gattungen ihre Werke zum Verkauf anboten. Bereits 1481 hat sich dieser Markt das Monopol als einziger erlaubter Kunstmarkt für den Verkauf von Schnitzerei und Malerei gesichert.
Der hohe Ausstoß an Kunstwerken führte ab 1470 zu einer Maßnahme der frühen Qualitätssicherung durch eindeutige Verarbeitungsvorschriften und eine Marke. Umstritten ist die genaue Ursache der Einführung der Marke, da sie einerseits auf die Absicht der Künstler zurückgehen könnte, sich gegenüber anderen Produzenten abzugrenzen und kenntlich zu machen. Zum anderen könnte sie aber ebenso gut nur aufgrund der Nachfrage für die Konsumenten eingeführt worden sein, um normierte, schnell prüfbare Qualität nachzuweisen.Die geöffneteHand – Wappensymbol der Stadt,[1] die ihren Namen von „Handwerfen“ ableitete[2] – war das Markenzeichen der Antwerpener Schnitzarbeit und wurde durch zwei periodisch wechselnde Kontrolleure der Gilde bei Werkstattbegehungen ins Holz derungefassten Figurengruppen geschlagen. War das gesamte Retabel später gefasst und mit Flügeln versehen, so wurden auf dem Schreinkasten oftmals zwei Hände über der sogenanntenBurg – gebildet aus derSilhouette des Sitzes der Brabanter Herrscher (Burg Steen) am Hafen in Antwerpen – eingeschlagen.
Ein grundlegendes Kennzeichen der Antwerpener Retabelproduktion ist – mit wenigen Ausnahmen – die erzählerische Gestaltung der im Retabel wiedergegebenen Szenen. Kleine Figuren von durchschnittlich etwa 38 cm Höhe werden in einzelnen, den Retabelkasten unterteilendenGefachen in einer bühnenähnlichen Anordnung zusammengesetzt. Dazu wird das Gefach meist mit einem ansteigenden Boden und zwei sich in der Tiefe verengenden Seitenwänden (ähnlich Kulissenwänden) gestaltet. Die Aufstellung der Figuren geschieht dann oft in drei betrachterparallelen Ebenen. Zuvorderst stehen der Szene zugewandt links und rechts zwei Standfiguren. Die Hauptfiguren füllen etwas nach hinten versetzt die zweite Ebene, während die Figuren der dritten Reihe diesen Hauptfiguren über die Schultern blicken. Diese Figuren sind oft wegen der ökonomischen Arbeitsweise in den nicht einsehbaren Teilen nicht bemalt oder vergoldet und manchmal nicht einmal fertig geschnitzt. Die Herkunft dieser Gestaltungsweise als Übernahme aus den spätmittelalterlichenPassions- oderMysterienspielen wird in der Kunstgeschichte diskutiert. Bisweilen wird hinter den erzählenden Figuren eine weitere, die Rückwand des Gefachs verdeckende Ebene mit einer Landschaftsdarstellung eingeschoben, die Nebenszenen zur Hauptszene enthalten kann. Die Ausführlichkeit der Erzählung und Zahl der Szenen und der Figuren pro Gefach hängt sehr vom Wunsch des Auftraggebers bzw. der gewünschten theologischen Konzeption für den Aufstellungsort ab.
Die Motive der einzelnen Gefache sind von der gewünschtenIkonografie des Retabels abhängig.
Ein Passionsretabel aus Antwerpener Produktion beinhaltet Darstellungen derPassion Christi. Zumeist werden die für die theologische Ausdeutung bedeutenderen biblischen Berichte der Kreuztragung, Kreuzigung (im erhöhten zentralen Gefach) und Kreuzabnahme oder Beweinung in den großen oberen Gefachen eines Retabelschreins dargestellt (vgl. Roskilde). Die in der Reihe darunter liegenden kleineren Gefache enthalten weitere Szenen, wie die Geißelung, Dornenkrönung oder eine Darstellung desEcce homo, oder noch weit häufiger Szenen der Kindheitsgeschichte Christi, die mittelalterlich als vorausgegangener und zugehöriger Weg vor Passion und Heilstat verstanden wird. Auf den Flügeln werden vom Betrachter aus gesehen links beginnend und über die Schreinszenen in Leserichtung nach rechts fortschreitend, erst gemalte Szenen, die chronologisch vor der Kreuzigung stattfanden (Einzug in Jerusalem, Gebet im Garten Gethsemane, Verrat oder Verhaftung und Christus vor Pilatus), und danach Szenen nach der Kreuzigung (Grablegung, Auferstehung, Himmelfahrt und Sendung des Heiligen Geistes) dargestellt.Die Außenseiten der Retabelflügel zeigen oft zentral dieMesse des Heiligen Papstes Gregor oder eine Darstellung des Abendmahls, der Speisung der 5000 und dazugehörige alttestamentlicheTypologien wie Abraham vor Melchisedek oder die Mannalese. Es ist zu vermuten, dass diese so sehreucharistisch ausgelegte Außenseite die während der meisten mittelalterlichenMessfeiern gezeigte Schauseite eines Retabels gewesen ist, da eine Öffnung der Flügel nur an den hohen Festtagen stattgefunden haben mag.
Gerade die Passionsszenen beruhen – neben den Texten desNeuen Testaments – auf dessenApokryphen, theologisch-didaktischen Texten derKirchenväter undExegeten und auf literarischen Werken z. B. des HeiligenBernhard von Clairvaux,Bonaventura von Bagnoregio oder der flämischen Mystiker vor und in derDevotio moderna.
Wie beim Passionsretabel sind die unteren Gefache zumeist mit Darstellungen derKindheitsgeschichte Jesu ausgefüllt, da diese folgerichtig ja auch einen großen Teil der Geschichte Marias ausmachen. Die oberen Gefache werden durch Darstellungen des Tempelgangs, der Vermählung mit Josef, den Tod Marias, oder besondere mariologische Themen wie ihre Himmelfahrt, Krönung durch Christus und Gottvater, Verherrlichung durch die weltlichen und geistigenStände oder eineRosenkranzmadonna eingenommen. Die Flügel sind in den Motiven in der Zusammenstellung variabler und bedienen sich gleicher literarischer Quellen wie die Szenen der Passionretabel, wobei die neutestamentlichen Texte aufgrund der weniger prominenten Rolle Marias dort zugunsten der Texte der Apokryphen und spätmittelalterlichenMystik undFrömmigkeit zurücktreten.Bisweilen zeigen sieDeesis- oderSakramentsdarstellungen oder Maria zugeordnete Heilige (z. B.Margareta von Antiochia oderKatharina von Alexandrien).
Die viel seltener als Passions- und Marienretabel vorkommenden Heiligenretabel beruhen auf einer den beiden vorigen Gruppen in der Konstruktion genau vergleichbaren Gestaltung, enthalten aber durchgängig auf Flügeln und im Schreinkasten Szenen der Legende eines oder mehrerer Heiliger. Sie sind z. B. erhalten oder überliefert für den ApostelMatthäus,Jakobus den Älteren,Leonhard von Limoges,Georg und die HeiligenDymphna undAnna. Selten enthalten sie auch nichterzählerische Darstellungen in Form von Standfiguren. Diese Sonderformen treten in Antwerpener Retabeln zumeist in Gegenden auf, in denen die einheimische oder besonders geschätzte Produktion benachbarter Kunstzentren die Wiedergabe von Standfiguren pflegt. So zum Beispiel in Nordspanien und dem im Jahrhundert zuvor unter lübeckischem Einfluss stehenden Mittelschweden (vgl. Ytterselö). Literarische Vorlage mag im Spätmittelalter dieLegenda aurea desJacobus de Voragine u. a.Hagiografien gewesen sein.
Als Sonderformen der Antwerpener Produktion können erhaltene oder überlieferte Retabel z. B. zur Eucharistie, wie das des Jan de Molder für dieAbtei Averbode, (heuteMusée national du Moyen Âge, Paris, 1513) angesehen werden. Aber auch einszenige kleinformatige Retabel verlassen bisweilen die oben dargelegten Klassifizierungen und es entstehen Mischformen.
Generell ist eine ikonografische Klassifizierung der Antwerpener, wie auch der Brüsseler und Mechelener und anderer Retabel, von verschiedensten Faktoren wie gewählten Motiven, theologischem und historischem Kontext am Aufstellungsort oder Nutzung literarischer Vorlagen abhängig und durchaus diskutabel.
Ein Antwerpener Retabel findet sich u. a. in:
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